Jeder Sommer hat sein eigenes popkulturelles Motto. 2023 ging als Barbie-, 2024 als Brat-Sommer in die Geschichte ein. Und 2025? Steht, zumindest hierzulande, im Zeichen der Schriftstellerin Caroline Wahl. Der Wahl-Sommer ist zwar verregnet, aber das macht nichts, denn Wahls Heldinnen Tilda und Ida aus ihrem Roman „22 Bahnen“ schwimmen auch bei schlechtem Wetter – und dann sogar besonders gerne. Wahls Coming-of-Age-Roman und seine Fortsetzung „Windstärke 17“ dominierten in den vergangenen zwei Jahren die Bestsellerliste. Doch die 30-Jährige kennt keine Pause.
Jetzt erscheinen im Spätsommer fast zeitgleich Wahls langersehnter dritter Roman „Die Assistentin“, der in eine gänzlich neue Welt – die des Machtmissbrauchs in einem Verlag – eintaucht, sowie im Kino die Verfilmung von „22 Bahnen“. Spätestens als Kulturstaatsminister Wolfram Weimer zum internationalen #BookLoversDay vor zwei Wochen auf Instagram „22 Bahnen“ in die Kamera hielt und das „lakonisch“ erzählte Buch „über große Geschwisterliebe, und darüber, wie man schwierige Zeiten überstehen kann“ als ultimativen Lese-Tipp teilte, war klar, wem dieser Sommer gehört: der in Kiel lebenden Erfolgsautorin und mit ihr dem Schwimmen, dem Durchhalten, der Alltagspoesie, dem Familienzusammenhalt, der Struktur, der Resilienz und nicht zuletzt der Sehnsucht.
In der neuen Verfilmung hauchen Zoë Baier („In die Sonne schauen“) als altklug-zerbrechliche Ida, Laura Tonke („Caveman“) als alkoholkranke Mutter, Jannis Niewöhner („Je suis Karl“) als geheimnisvoller Viktor und ganz besonders Luna Wedler („Je suis Karl“) als tapfer-trotzige Tilda der berührenden Erzählung übers krisenhafte Erwachsenwerden Leben ein. Tilda ist eine Heldin, wie man sie noch nicht gesehen hat: Als Mathematik-Studentin denkt sie gerne in Zahlen. 22 Bahnen schwimmt sie jeden Tag im Freibad, 17 Mal hat ihre Mutter ihr schon versprochen, dass sie nie wieder Alkohol trinkt, 13 Mal hat sie Tilda versichert, dass es dieses Mal wirklich stimmt. „Kannst du mal aufhören mit deinen Scheiß-Zahlen?“, fährt die Mutter die Tochter an. „Und kannst du mal aufhören mit deinem Scheiß-Alkohol?“, schießt Tilda zurück.
Besondere Stimmung
Eigentlich wäre Tilda längst abgehauen aus der Mietwohnung, die sie jeden Abend mit einer neuen Überraschung empfängt: Mal hat sich ihre Mutter ins Koma gesoffen, mal wild um sich geschlagen und mal liegt sie nur apathisch auf der Couch. Dann wieder hat sie zur Entschuldigung den Tisch liebevoll gedeckt und Muster in Radieschen geschnitzt. Tilda steht kurz vor dem Master-Abschluss, alle ihre Freunde sind längst weggezogen, und auch sie hält nichts mehr hier – wäre da nicht: Ida. Ihre zehnjährige Schwester.
Die kann sie unmöglich alleine in dem Chaos zurücklassen. Denn mit zehn hat man früher vielleicht – wie ihre Mutter anmerkt – Kinder großgezogen, aber es ist – wie Tilda erwidert – einfacher, sich um ein Kind zu kümmern als um eine Mutter. Als Tildas Professor sie auffordert, sich für eine Promotionsstelle in Berlin zu bewerben, lehnt Tilda zunächst ab. Das kann sie ihrer Schwester nicht antun – oder doch? Allmählich wächst in ihr der Wunsch fortzugehen. Und so unterzieht sie Ida einem Selbstständigkeits-Bootcamp, das die Zehnjährige auf ein Leben mit der Mutter und ohne Tilda vorbereiten soll: Ida soll alleine Pizza bestellen, bei gutem Wetter ins Freibad gehen, „Die Tribute von Panem“ lesen, eine Freundin finden.
Jede Romanverfilmung hat ihre eigenen Schwierigkeiten. Die große Kunst, die es bei Wahls Prosa zu meistern gilt, besteht im Einfangen einer bestimmten Stimmung: jene sommerliche Trübnis zwischen Elend und Widerstandsfähigkeit, also zwischen Supermarktkasse, alkoholkranker Mutter und Gut&Günstig-Pasta einerseits und Freibad, erster Liebe und schwesterlichem Zusammenhalt andererseits.
Es gelingt der Regisseurin Mia Maariel Meyer und der sich akkurat an die Vorlage haltenden Drehbuchautorin Elena Hell hervorragend, das Wahlsche Lebensgefühl auf die Leinwand zu transportieren, etwa wenn Tilda ihre Gedanken im Voice-Over wiedergibt. Das fast zeitlos wirkende Märchen verzichtet auf Gegenwartsmarker; einzig, wenn Tilda und Ida gemeinsam „Durch den Monsun“ von Tokio Hotel singen, ruft der Film die Jugenderinnerungen einer bestimmten Generation auf. Dascha Dauenhauer, die auch schon für „Islands“ und „Berlin Alexanderplatz“ komponierte, entwirft einen rebellischen und doch zarten Score.
Die Schwächen des Romans schafft der Film allerdings nicht auszubügeln. Wem die Männerfiguren bei der Lektüre als nichtssagende Projektionsflächen schienen, der wird auch mit Victors mysteriösen Blicken im Kino nicht warm werden. Die Nebenhandlung, die in Rückblicken der Frage nachgeht, wer bei einem lange zurückliegenden Autounfall am Steuer saß, verwirrt. Zumindest Kritiker des Happy Ends seien mit Hinweis auf die Fortsetzung beruhigt, von der die Leser des Romans bei seinem Erscheinen noch nichts wissen konnten. „Windstärke 17“, dessen Verfilmung nicht allzu lange auf sich warten lassen wird, erzählt aus der Sicht der jüngeren Schwester Ida. Und die ist alles andere als versöhnlich.
Der Film „22 Bahnen“ läuft ab dem 4. September im Kino.
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