Durchschnittliche Altenheime sind – das darf man nicht vergessen, während man sich auf Netflix zwei Stunden lang mit Helen Mirren, Pierce Brosnan und Ben Kingsley mit dem „Donnerstagsmord“-Club in der erzbritischen Seniorenresidenz Coopers Chase herumtreibt – für gewöhnlich nichts für Feiglinge. Das gilt für jene, die ihren sogenannten Lebensabend in einem solchen verbringen, für jene, die sie dort besuchen, und natürlich für jene unterbezahlten Fachkräfte, die sie versorgen.
Eigentlich gibt es kaum eine Einrichtung, die sich weniger als Schauplatz für kuschelige Literatur eignet als eine jener Altersruhesitze oder wie Altenversorgungeinrichtungen sonst gern beschönigend benannt werden, die sich Opa und Oma Boomer demnächst leisten können.
Dem durchschnittlichen Elend zu entkommen, gab es – außer im Lotto zu gewinnen vielleicht oder ganz spät im Leben noch ein total erfolgreiches Start-up zu gründen oder ganz früh zu sterben – einen Königsweg, den keiner kannte, bis ihn Richard Osman gegangen ist. Richard Osman misst mehr als zwei Meter und ist ein im Wortsinn Großer des britischen Fernsehens: Moderator, Quizmaster, Produzent.
Dann wollte er ein Buch schreiben. Fand nach einem Besuch in einem Altenheim, dass es doch eine an Altersdiskriminierung grenzende Ignoranz der Literatur gegenüber Menschen jenseits der Siebzig gibt. Und erfand den „Donnerstagsmordclub“, ein Quartett rüstiger Rentner, die, während andere stricken oder puzzeln, sich ungelöster Kriminalfälle annehmen – so eine Art Mord-Sudoku.
Die Verlage rannten ihm für seine Version von cosy crime, des Kuschelkrimis, die Schreibstube ein. Für einen siebenstelligen Betrag verkaufte er die Rechte an den ersten vier Romanen. Der folgende Vier-Buch-Vertrag brachte ihm angeblich zehn Millionen Pfund ein. Er könnte sich also mühelos einkaufen in Coopers Chase.
Coopers Chase – das ist einer der Gründe von Osmans Erfolg – ist nämlich kein durchschnittliches Altenheim. In Coopers Chase ist alles anders. Es erinnert – jedenfalls in der Verfilmung von Chris Columbus, der seine Karriere lustigerweise hauptsächlich mit Kinderfilmen bestritt, jetzt aber die Pensionsgrenze von Kriminalhauptkommissaren längst hinter sich hat – entfernt an Downton Abbey. Was daran liegt, dass Englefield House, ein gewaltiger elisabethanischer Kasten in der Grafschaft Berkshire, die Kulisse lieferte (wie für mindestens ein Dutzend anderer Filme von „X-Men: Erste Entscheidung“ bis „The Crown“).
Die schönen alten Reichen
In Coopers Chase blühen die Reichen und Schönen ein letztes Mal auf. Es gibt Champagner und Golf und Bogenschießen. Lamas hüpfen fröhlich übers gepflegte Grün. Das durchschnittliche Altenelend findet einfach nicht statt. Man kann sich auch kaum vorstellen, dass es in Coopers Chase Inkontinenzwindeln gibt, dass es da komisch riecht.
Die gesetzten Damen und Herren laufen wie aus dem Ei gepellt herum. Und sehr geschmeidig, Rollatoren brauchen sie nicht. Das Pflegepersonal ist noch deutlich unsichtbarer als die Bediensteten am Eton Place. Miss Marple hätte sich Coopers Chase nicht leisten können. Agatha Christie schon (Osmans Altendetektei ist eine Hommage an die „Tuesday Club Murders“, eine Christie-Geschichte von 1932).
Ihr erster Netflix-Fall fällt Elizabeth (Helen Mirren) und Rob (Pierce Brosnan), Ibrahim (Ben Kingsley) und Joyce (Celia Imrie) gewissermaßen vor die Füße. Sie haben gerade die Arbeit an einem cold case aufgenommen, dem ungelösten Mord an einer jungen Frau, da liegt der schmierige Immobilienhai (David Tennant), der Coopers Chase in Luxuseigentumswohnungen verwandeln will, tot am Rand des Friedhofs (den wollte er auch als Bauland). Es hatte eine Demo gegeben gegen den Mann. Sie alle waren dabei. Und alle sind sie jetzt natürlich verdächtig.
Elizabeth war mal ein hohes Tier beim Geheimdienst (der ihr zum Abschied Bonds Dienstwagen zur Verfügung stellte), Rob Gewerkschaftsführer, Ibrahim Psychologe, Joyce Krankenschwester, die notorische Kuchenbäckerin verdankt ihre Anwesenheit in Coopers Chase ihrer finanziell potenten Tochter.
Eine weitere Leiche wird ausgegraben. Alles hängt irgendwie mit allem zusammen. Die Polizei – ein schokoladenabhängiger und hochneurotischer Kommissar und eine aufstrebende schwarze Straßenpolizistin, die vom Coopers-Chase-Mord-Club als Informantin gedungen wird – ist natürlich randtrottelig und will sich ihr Ermittlungsmonopol nicht aus der Hand nehmen lassen.
Im Rollstuhl der Erzählkunst
Die versponnene, vielstimmige Struktur aus Osmans behaglichem Mörderroman wurde für den Film gediegen planiert. Ein paar Figuren laufen allerdings völlig sinnlos herum. Die Alten werden nicht desavouiert, das Dunkel, in das alle absehbar gehen, wetterleuchtet verhalten, aber sichtbar am Horizont – „Der Donnerstagsmordclub“ geht an die Grenze der Verlogenheit, der unlauteren Beschönigung, aber nie darüber hinaus.
Sanft wird mit dem Altwerden kokettiert. Selbstironie findet statt. Scherze werden gemacht. „Das ist hier ja wie bei ,Walking Dead‘“, ist so ein Satz. Die Ausstattung ist üppig, man schwelgt beim Schwenk durch die Räume (was einem in einem durchschnittlichen Altenheim eher selten geschieht).
Das Erzähltempo ist derart niedrig, dass niemand besorgt nach einem Defibrillator Ausschau halten muss. Die Geschichte wird im Rollstuhl der Erzählkunst vorbeigeschoben. Mirren (80) und Kingsley (82), Brosnan (72) und Imrie (73), die sich alle in Coopers Chase einmieten könnten, wenn sie nicht ein Haus auf Hawaii hätten wie der Ex-Bond Brosnan, haben allerdings sichtbar Spaß an der Arbeit. Gelangweilt wird man also nicht von den Donnerstagsmördern. Aber man muss auch nicht an beginnender Demenz leiden, um sie ganz schnell wieder aus dem Kurzzeitgedächtnis zu verlieren.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke