Die kleine Alma blickt fasziniert auf dieses etwas unscharfe Schwarz-Weiß-Foto, das neben vielen anderen auf dem Schrank in der Stube steht wie auf einem Altar. Es zeigt ein Mädchen, so blond wie sie selbst und ungefähr so alt, in unnatürlicher Haltung auf dem Sofa sitzend, hinter ihm eine geisterhaft verschwommene Figur, wie ein Monster mit zwei Köpfen. Sie fragt ihre älteren Schwestern, auf Plattdeutsch, wer das sei. Na, die Alma, antworten sie. Die sei gestorben mit sieben, und dahinter, das sei doch die Mutter. Aber so richtig scheint Alma (gespielt von Hanna Heckt) nicht zu glauben, dass das ihre tote Schwester ist, nach der sie später benannt wurde. Ist sie das nicht vielmehr selbst, als Tote, als Gespenst?
Mascha Schilinskis gefeierter, in Cannes ausgezeichneter und nun für den Auslands-Oscar ins Rennen geschickte Film „In die Sonne schauen“ ist auch ein Film über Medien. Das Medium Fotografie war von seinen Anfängen verbunden mit der Vorstellung, eine Geisterwelt sichtbar zu machen, eine Verbindung mit dem Jenseits herzustellen. Und ist es nicht auch im Grunde zutiefst unheimlich, längst Gestorbene ganz lebendig zu sehen, von ihrem Blick im Hier und Jetzt getroffen zu werden?
Eine Sofortbild-Kamera wird im Film einmal, wir sind in der späten DDR, als „Wundermaschine“ gefeiert – und auch diese liefert dann ein Geisterfoto, auf dem Verschwundenes wahrnehmbar wird. Roland Barthes hat dieses Wesen der Fotografie in seinem berühmten Essay „Die helle Kammer“ als „Punctum“ bezeichnet – im Gegensatz zu den vielen historischen Informationen, die ein Bild aufbewahrt und die der Betrachter per „Studium“ (Barthes) wahrnehmen kann.
Für das Medium Kino gilt das ganz ähnlich, jedenfalls wenn es ein Film ist, der einen Blickkontakt zwischen den Menschen auf der Leinwand und denen im Saal herstellen will, wie das „In die Sonne schauen“ tut. Er erzählt in nichtchronologischer Form vom Leben und Sterben auf einem Vierseitenhof in Mitteldeutschland (gedreht wurde in einem Dorf in der Altmark in Sachsen-Anhalt), und zwar anhand von vier weiblichen Hauptfiguren, deren Geschichten in den 1910er-, 1940er-, 1980er-Jahren sowie in der Gegenwart angesiedelt sind. Doch diese vier Mädchen beziehungsweise jungen Frauen sind selbst Medien, so wie man in der Parapsychologie diejenigen Menschen nennt, die mit der Gabe ausgestattet sind, mit dem Totenreich zu kommunizieren.
Das klingt nicht nur unheimlich, sondern soll es auch sein. Schilinski und ihre Co-Drehbuchautorin Louise Peter nehmen bewusst Anleihen beim Horrorfilm, was mitunter so aussieht, als würde Edgar Reitz ein Remake von „Shining“ drehen: Die Heimat ist ein verfluchter Ort. Der strikt begrenzte Schauplatz der Handlung spielt eine fünfte Hauptrolle, gemäß dem Horror-Subgenre des Haunted-House-Films. Hier scheinen die Mädchen die hier zu Tode Gekommenen zu spüren, ja, den Tod selbst zu durchleben. Diese Stationen – die Stube, die Scheune, das Feld, der Fluss – kehren wie auf einem Passionsweg immer wieder und rufen die Lebenden zu sich.
Eine kongeniale, virtuos mit Unschärfen und Wacklern arbeitende Kamera und ein komplexes Sounddesign jenseits aller Filmscore-Konventionen unterstützen diese auf Dauer gestellte Horror-Atmosphäre, in der gerade das Idyllische und das Alltägliche immer nur einen Schnitt von der Katastrophe entfernt sind – sei es beim Versteckspiel in der Scheune oder beim sommerlichen Baden im nahen Flüsschen. Wenn ein Kind im Wasser planscht, ist der Sog des Todes fast physisch zu spüren. „Picknick am Valentinstag“ ist der Titel von Peter Weirs klassischer Filmfassung dieses subtilen Schreckens aus den 70ern. „Picknick am Allerseelen-Tag“ liefert Schilinski. Und Allerseelen ist in diesem Film jeden Tag.
Vernachlässigung des Plots
Die Stimmung ist hier wichtiger als die Handlung, die im Detail für den Zuschauer nur mit höchster Konzentration nachvollziehbar ist, gerade in Bezug auf die Verwandtschaftsverhältnisse. Schilinski hat sich erklärtermaßen eine Maxime von Robert Bresson zu eigen gemacht: „I’d rather people feel a film before understanding it.“ Der Haken an diesem Filmgefühl, bei dem das Melodramatische als Grundfarbe fast jeder Szene gesetzt wird, ist die Vernachlässigung der Plot-Details: Es genügt, dass die Figuren irgendwelche Gespenster sehen beziehungsweise – hochbewusst und abwesend zugleich – an der Welt vorbei ins Nirgendwo blicken.
Psychologische Motive und kausale Zusammenhänge werden dann nebensächlich. Vor allem die zweite, 1940er-Zeitebene um Erika (Lea Drinda) bleibt auf ganz unbefriedigende Weise Fragment. Dabei müsste ihre tragische Lebensgeschichte doch das erzählerische Scharnier sein zwischen dem vormodernen Hof mit seinen archaischen Sitten und der DDR-Zeit mit einem vordergründig fröhlichen Genossenschafts-Alltag.
Die besten Schauspielerleistungen gibt es in diesem 80er-Jahre-Teil, auch weil hier einmal ein individuelles Drama wirklich ausagiert und nicht nur behauptet wird: die Coming-of-Age-Story von Angelika zwischen Aufbegehren und Haltlosigkeit, Verletzlichkeit und sexueller Neugier, von Lena Urzendowsky sensationell ambivalent gespielt. Ebenfalls herausragend Konstantin Lindhorst in der Rolle des lauernden, virilen Onkels, der seinem eigenen Sohn zum Rivalen wird, oder Claudia Geisler-Bading als Mutter, die als Überlebende noch Jahrzehnte später vom Trauma des Kollektivselbstmords 1945 verfolgt wird. Hier sind die Dämonen in jeder Figur höchst lebendig. Und wenn der Mähdrescher über das Feld rauscht, wird er zur modernen Verkörperung des erbarmungslosen Schnitters mit der Sense.
Vor allem in den beiden früheren Zeitebenen aber leidet der Film – und mit ihm der unter die Dauererwartung des Schlimmsten gesetzte Zuschauer – unter dem Statuarischen, den zur reinen Symbolik eingefrorenen Figuren. Die von Ahnungen und Visionen heimgesuchten Kinder haben selbst beim Spielen kaum etwas zu Lachen. Einmal gibt es ein Fest, aber auch das endet mit Gesprächen über den Tod und begrabschten Mägden. Diese Kritik an patriarchalen Strukturen, der vor allem, aber keineswegs nur die Frauen zum Opfer fallen, geht buchstäblich durch Mark und Bein, doch auch hier werden die Motive überdehnt – wie die immer wieder grell ins Bild gesetzte Verstümmlung des Sohns und der noch Jahre später zu spürende Phantomschmerz.
Nun sollte man von einer Gespenstergeschichte keinen Humor erwarten – mit Ausnahme von „Ghostbusters“ vielleicht. Gravierender ist der gedankliche Riss, der sich zwischen der kritischen Botschaft und dem überdehnten Fluchmotiv auftut. Dass sich historische Traumata in der Familie vererben und auch nachfolgende Generationen verfolgen, das wird visuell durchaus nachvollziehbar und hat eine innere Logik. Aber warum heutige Kinder noch von den misogynen Geistern der Vergangenheit geplagt und in Richtung Tod gezogen werden, ist nur auf einer übersinnlichen Ebene zu verstehen. Doch das Geisterhafte steht nun jedem Fortschritt entgegen.
Mit der Gegenwartsebene kippt Schilinskis magischer Hyperrealismus endgültig in eine hochvirtuose Form von Schwarzer Romantik, die schon im 19. Jahrhundert als Korrektiv zur Rationalität der Aufklärung diente. Die Spukvisionen und die sirenenhaften Lockrufe aus dem Totenreich dementieren, dass die unselige Vergangenheit jemals überwunden werden kann. Wenn die aus Berlin zugereiste Mutter (Luise Heyer) bis zur Erschöpfung mit dem Vorschlaghammer den historischen Kachelofen zermalmt, erscheint das als Emblem eines vergeblichen Exorzismus. Ihre Kinder geraten dennoch in den fatalen Bann, unter dem dieser Geisterhof zu stehen scheint. Überall funkeln die Irrlichter und hinterlassen schemenhafte Flecken auf dem Bild. Die wahre Sonne aber, die scheint draußen, wenn wir das Kino nach zweieinhalb langen, finsteren Stunden wieder verlassen.
Der Film „In die Sonne schauen“ läuft ab dem 28. August im Kino.
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