Um eines der größten Kunstwerke aus Europas Geschichte noch einmal gründlich zu betrachten, ist für Fans des Mittelalters – aber nicht nur für sie – Eile geboten. Am letzten Tag dieses Monats wird das Museum des Teppichs von Bayeux in der Normandie seine Pforten schließen, und zwar für mindestens zwei Jahre. Dann wandert das einzigartige Kunstwerk, ein gut 50 Kilogramm schwerer Bildteppich von knapp 70 Meter Länge, erst einmal in die Hände von Restauratoren und Forschern. Das eigens für den Teppich errichtete Museum bekommt einen Teilneubau, der das empfindliche Gewebe besser schützen und zugleich besser sichtbar machen soll.
Diese Nachricht allein gehörte zum europäischen Museumsalltag und ist noch kein Grund für die Schlagzeilen, die dieses Kunstwerk derzeit massenhaft bekommt. Aufgeladen wird das Prozedere durch den gleichzeitigen Plan, den Bildteppich erstmals seit vielen Jahrhunderten wieder dorthin zu entleihen, wo er vor bald 1000 Jahren entstand: nach England. Dort kennt jedes Kind die einerseits naiven, andererseits sehr detaillierten Bildfolgen, die den Feldzug des normannischen Herzogs William über den Ärmelkanal zeigen. Mit der dargestellten Schlacht bei Hastings übernahm eine normannisch-französische Dynastie Britannien, verankerte dort eine nach Süden orientierte Hofkultur, veränderte Alltag und Sprache – allerdings mit brutaler Gewalt. Das Jahr 1066 gehört damit zu den absoluten Schlüsseldaten der englischen Geschichte, und es ist ein unerhörter Zufall, dass das Geschehen jenes Jahres quasi filmreif auf einer Spule aus Wolle heute noch anzuschauen ist. Kein Schulbuch in Mitteleuropa kommt ohne Reproduktion aus.
Nun hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron seit Jahren seinen britischen Nachbarn versprochen, den Museumsumbau im beschaulichen normannischen Landstädtchen Bayeux für eine spektakuläre Ausleihe nach London ins Britische Museum zu nutzen. Für London und für ganz England bedeutet das mehr als ein Jahrhundertereignis, denn danach wird der Teppich, den zuletzt Napoleon nach Paris entführte, wohl niemals mehr seine Heimat unweit der Kathedrale von Bayeux verlassen dürfen. Nicht einmal die nationalsozialistischen Besatzer wagten es, den Teppich zu rauben, obwohl sie seine Botschaft in ihren Rassenwahn einbauten: Nur germanisch-normannische Krieger und keine verweichlichten Kelten seien imstande gewesen, die britischen Inseln zu erobern und zu kontrollieren. Von solch gefährlichem Blödsinn immerhin ist die gegenwärtige Debatte frei.
Doch viele Restauratoren sind immer noch über Macrons politisch motivierte Großzügigkeit besorgt. Kann das fragile Gewebe einen weiten Transport – wohl per Boot wie Williams Eroberer – überhaupt überstehen? Und wird man in London irgendwann im Jahr 2026 die angemessene Präsentation mit Abstand, Klimatisierung, Panzerglas und gedämpftem Licht bereitstellen können, damit die Farben und die dünnen Fädchen keinen weiteren Schaden nehmen? Dringende Ausleihgesuche aus London in den Jahren 1953 und 1966 zum 900. Jahrestag der Schlacht waren von den französischen Alliierten noch kühl abgelehnt worden.
Als Macron sein Versprechen jetzt am 8. Juli im englischen Unterhaus erneuerte, witzelte er, dass die Verhandlungen über den Teppich erheblich länger und komplizierter gewesen seien als diejenigen über den Brexit. Fünf Premierminister kamen und gingen, und dennoch scheint der politische und mediale Druck für diese anglofranzösische Museumskooperation längst zu groß zu sein. Die Bedenken werden, wenn beim Augenschein im Herbst nicht Dramatisches zutage tritt, wohl überstimmt werden. Schließlich ist der französische Staat rechtlich Eigentümer des Teppichs; die Stadt Bayeux verwahrt ihr Prunkstück, das für Tourismus und Aufmerksamkeit sorgt, nur treuhänderisch.
Was macht dieses Kunstwerk so besonders? Zum Ersten gibt es aus jener Zeit schlicht keinen Vergleich. Hat es ähnliche Werke gegeben, so sind sie heute verloren. Zum Zweiten handeln die comicartigen Bildfolgen nicht von der Vita eines Heiligen oder lokalen Bischofs, sondern von einem Ereignis riesiger historischer Tragweite. Forscher vermuten, dass William – später bekam er den Beinamen „the Conqueror“ (der Eroberer) – persönlich den Teppich mit den Bildern seines Triumphs anfertigen ließ, und zwar bald nach der Entscheidungsschlacht von Hastings. Offenbar wollte er durch die würdige Darstellung des in der Schlacht unterlegenen Widersachers Harold Godwinson eine ideologische Basis für eine Versöhnung mit den Bewohnern Britanniens legen, über die er fortan zu herrschen gedachte. Vor der Eroberung benannte man William wegen seiner dubiosen Abkunft noch mit dem wenig schmeichelhaften Beinamen „der Bastard“ – ein weiterer Grund, sich mit dem teuren Teppichgewirke ein besseres Image zuzulegen.
Um eine legitime Thronfolge anzudeuten, kommt auch der im Januar 1066 gestorbene Vorgängerkönig Edward, genannt „der Bekenner“, im Teppich gut weg. Schließlich war es dieser letzte angelsächsische Herrscher, mit dessen Abtreten der Kampf um Britanniens Thron überhaupt erst eröffnet wurde. Das ebenfalls einmarschierende dänische Heer unter dem Prätendenten Harald Hardrada, der als Halbbruder Edwards eigentlich erbberechtigt war, wird auf dem Bildteppich verschämt weggelassen. Die Machtübernahme mit Segelbooten voller Krieger und galoppierenden Kampfrössern sollte wirken, wie von Gott persönlich verordnet.
So konzentriert sich das Geschehen auf einen Eid, den Harold Godwinson vermeintlich geschworen hatte: Er werde niemals den englischen Thron anstreben. Indem der Teppich sein Streben zur Macht als Eidbruch darstellt, versucht der Schlachtensieger William seinen eigenen Anspruch zu legitimieren.
Während er also für seine normannischen Krieger die fruchtbare Insel mit Grundbesitz, Dörfern und Städten unter sich aufteilte, kam er augenscheinlich mit seinem Herrschaftsanspruch nicht weit. Bereits in den Jahren 1069/70 schlug der Eroberer einen Aufstand im Norden seines neuen Königreichs nieder. Bei dieser „Plünderung des Nordens“ kamen wahrscheinlich rund 150.000 Angelsachsen durch Gewalt und Hunger um; es kam zu Kannibalismus und Seuchen. Selbst normannische Zeitgenossen wie der Mönch Ordericus Vitalius, die William eigentlich wohlgesonnen waren, sahen in dieser ethnischen Säuberung ein Kriegsverbrechen. Über Jahrhunderte blieb das Land rund um York nach Auskunft von Chronisten wüst und leer.
Weil aber stets die Sieger die Geschichte schreiben, behielt der brutale William den Ruhm als Stammvater Englands bis hin zu den zeitgenössischen Monarchen Elizabeth und Charles. Williams Gebeine wurden in der Revolution arg gerupft, ihre Reste ruhen heute in der imposanten romanischen Kathedrale von Saint-Étienne im französischen Caen, unweit von Bayeux. Ebenso wie die nachfolgende Dynastie der Plantagenet machte William damit deutlich, dass ihre Stammlande auf dem Kontinent ökonomisch und kulturell erheblich reicher und wichtiger waren als die regnerischen und von Schafherden geprägten Besitztümer zwischen London und Newcastle.
Die bevorstehende Ausleihe der famosesten Wollwirkerei der Welt mitten ins Herz des erst sehr viel später dominanten British Empire, führt der Öffentlichkeit besonders deutlich erstaunliche Fäden vor, die uns heute immer noch mit dem Mittelalter verbinden. Denn höchstwahrscheinlich war die normannische Eroberung der Auslöser für eine Flucht von angelsächsischen Noblen, die der Legende nach im Jahr 1066 auf 350 Schiffen nach Konstantinopel auswanderten und als Palastgarde des byzantinischen Kaisers kämpften – im Nahen Osten und auf der Krim.
Dort wird heute wieder – oder immer noch – Krieg geführt. Und auch Schiffe mit Migranten fahren weiter über den Ärmelkanal, allerdings in umgekehrte Richtung, weil die Insassen in einem Großbritannien, das ihnen keinen roten Teppich ausrollt, ein besseres Leben suchen. Die staunenswerten Bilder von Bayeux, die uns nach der Zählung des Oxfordprofessors übrigens neben allen Kämpfen auch 93 Penisse (88 von Pferden und fünf von Menschen) zeigen, erzählen demnach zwar von einer archaischen, blutigen und mobilen Kriegerkaste, welche den Comic ihres Triumphs an den Palastwänden aufhängte. Doch sind unsere eigenen Zustände den ihren weniger fern, als wir uns einbilden.
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