Kampf dem Korsett! Das war um 1900 bekanntlich die Parole der Schneider von „Reformkleidern“. Das Einschnüren der weiblichen Taille bei gleichzeitiger Aufbauschung des Hinterteils zum „cul de Paris“ entwickelte sich im jungen 20. Jahrhundert rasch in der westlichen Welt zum Gebot der Stunde. Aber der Mann, der damals wie kein anderer eine „neue Linie“ für den Frauenkörper vorgab und es damit zum einflussreichsten Modeschöpfer Europas brachte, hatte noch andere Bastionen zu schleifen.
Den ganzen kleinteiligen Kleiderbesatz mit seinen Passen und Paspeln, Biesen und Trallen, Schleifchen und Rüschen, die aus jeder „gut angezogenen“ Frau im späten 19. Jahrhundert einen überreich beladenen Tannenbaum gemacht hatten (und, nebenbei gesagt, ganze Heerscharen von Posamentierwarenherstellern und Kurzwarenhändlern in Lohn und Brot setzte), galt es runterzureißen. Abzuschaffen. Die neue Linie sollte eine klare sein. Und so erschuf der Mann, dessen Name nur allzu bald jeder Frau von Geschmack ein Begriff war, so schuf also Paul Poiret im Jahr des Herrn 1907 „Joséphine“.
Joséphine war keine neue Frau, nicht mal ein wirklich neues Kleid. Denn schon unter dem „Directoire“, also zwischen der Französischen Revolution und Napoleon, hatte es solche fließenden Gewänder gegeben: einfarbig, schmucklos, allenfalls mit kleiner Grecque-Bordüre gesäumt, Taille unter die Brust gesetzt, locker geschnürt. Das trug schon die historische Joséphine de Beauharnais, spätere de Bonaparte, Kaiserin der Franzosen von 1804 bis 1810. Und welche Frau will schließlich nicht Kaiserin sein?
Einmal zurück auf Null gesetzt, konnte nun der weibliche Körper wieder hochgebootet werden. Neu verpackt und abermals reich verziert. Aber eben anders. Paul Poiret, der selbstredend in Paris, wo sonst, geboren und sozialisiert wurde, dachte sich die tollsten Finessen aus. Er ging auch auf Reisen und nahm sich vom Kleiderstil exotischer Völker, was er brauchte. Aber die klare Linie blieb. Bequemlichkeit setzte den Maßstab – mit Ausnahme von 1911, als er für eine Saison den die Fußfesseln schnürenden „Humpelrock“ propagierte. Und die Vorliebe für leichte Stoffe, lebhafte Farben gab den Ausschlag, wenn er drei Jahrzehnte lang dekretierte: „Die Mode ist ein Fest“.
Diesen Ausspruch hat man auch im Pariser Musée des Arts Décoratifs zum Motto erhoben. Im Pavillon de Marsan, am nordwestlichen Ende des Louvre, den man von der Rue de Rivoli aus betritt, wenn einen die aggressiven Radfahrer die Straße überqueren lassen, wird dieses Fest nun nachempfunden. Es handelt sich hier um eine jener schwelgerischen Lustbarkeiten, wie sie selbst in den Museen der französischen Hauptstadt nur alle Jubeljahre einmal stattfinden. Und wer sich in die Wogen ihrer Eleganz und Kostbarkeit stürzt, sollte aufpassen, dass er von ihnen nicht ins Reich der Träume davon gespült wird. Oder, angesichts all der präsentierten Schönheit, nun plötzlich merkt, wie einfallslos er selber angezogen ist, und sich alle Kleider vom Leib reißt.
Zumal auch hier wieder gilt: Ein Fest kommt selten allein. Einmal aufs Feiern eingestellt, strömen auch die anderen herbei, die bei Laune sind. Und wer war das nicht um 1900, 1910, 1920? Unterbrochen von der Katastrophe des Ersten Weltkriegs, hat man es hier mit einer Epoche zu tun, die wie nur wenige in der Geschichte der Menschheit entschlossen war, das Leben in vollen Zügen, und Geld und Geschmack vorausgesetzt, mit aller zur Verfügung stehenden ästhetischen Raffinesse zu genießen.
Auch die Künste machten mit. Und Poiret wurde bald zum Arrangeur ihrer festiven Zurüstungen. Dieser Mann, der auch Bücher schrieb, der malte, der Parfums entwickelte (womit er einen Trend unter Couturiers stiftete, der bis heute anhält), er vernetzte sich früh mit den maßgeblichen Künstlern seiner Zeit. Entdeckten nicht gerade die legendären „Ballets Russes“ neue Ausdrucksmöglichkeiten des menschlichen Körpers? Für die Kostüme, die bei diesen Choreografien getragen wurden, zeichnete ein gewisser Léon Bakst verantwortlich. Prompt bot ihm Poiret die Zusammenarbeit an.
Und die Maler der Stunde, „Fauves“ genannt, ihrer wilden Farben wegen? Hatten sie dem Modemacher nicht gleichfalls viel zu sagen und zu geben? Nicht nur, dass André Derain oder Maurice de Vlaminck den Modezaren Poiret nun porträtierten – die Bilder prangen ebenfalls in dieser Schau –; sie wurden einbezogen in die „Factory“: Von Vlaminck beispielsweise sind hier bunte Emailknöpfe zu sehen, die sich besonders gut auf orientalisierenden Kleidern machten.
Raoul Dufy wiederum schuf eine riesige Tapisserie, die eine Modenschau im Haus Poiret darstellt: ein Fest auch dies und allemal ein gesellschaftliches Ereignis. Aber doch nur ein Vorgeschmack auf die „Fête de Bacchus“ oder „La Mille et deuxième nuit“, die der große Zeremonienmeister der Belle Epoque zur gleichen Zeit inszenierte. Da konnte selbst Diaghilev nicht umhin, Poiret zu bitten, sich in die Dekors seiner Ballettaufführungen einzubringen.
Und auch der Film, der in den Zwanzigerjahren ausstatterisch Fahrt aufnahm, klopfte bei Poiret an. Wenn etwa Marcel L‘ Herbiers „L‘ Inhumaine“ heutzutage noch interessiert, dann wahrscheinlich wegen der fantasievollen Geraderobe seiner Hauptdarstellerin. Jedenfalls legen das die Auszüge nahe, die in der Ausstellung über die Wand flimmern. Umso bedauerlicher, dass sich vom Zusammenspiel Poirets mit der Fast-nackt-Tänzerin und Chansonette Josephine Baker nur Fotos erhalten haben.
Den Löwenanteil der Präsentation bilden jedoch berechtigterweise die Sachen zum Anziehen. Hosenröcke und Pumphosen wechseln sich mit exquisiten Abendroben ab. Silbern schillern Seide und Atlas, schwarz glänzt der Stickereibesatz aus Jett und Jade und Damast. Das „Lampenschirmkleid“ zeigt, was alles hält, wenn es mit Drahtstreifen versteift wird: Warum soll eine Frau, die weiß, was sie will, schließlich nicht auch mal als Einrichtungsgegenstand auf eine Party gehen? Immer vorausgesetzt, sie hat ihren weiten „Konfuziusmantel“ dabei, unter dem sich alles unterbringen lässt.
Überhaupt die Mäntel: Ausladende Capes waren im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts für die Frau von Welt obligat. Aber bei Poiret durfte sich nun auch der Mann mal schmücken. Vorbei die Zeit, da der Philosoph Diderot im 18. Jahrhundert einen melancholischen Essay darüber schrieb, dass sich sein jahrzehntelang getragener Hausmantel in seine Fäden auflöste und ausgesondert werden musste. Poiret ging selbst mit gutem Beispiel voran und zeigte, dass es auch für den Herrn verschiedene Gelegenheiten gibt, eine „robe de chambre“ anzuziehen und dass man daher gleich mehrere davon im Schrank haben sollte. Am liebsten zeigte er sich in einem bodenlangen Hausrock, den er „Ice-Cream Soda“ nannte.
Poiret steht auch für die Fantasie der Abwandlung, der Anverwandlung. Das zeigen nicht zuletzt abschließend die Kostüme späterer Modeschöpfer, die sich von Coco Chanel über Christian Dior bis hin zu Yves Saint Laurent immer wieder von ihm inspirieren ließen. Doch der Prächtigste von allen ist und bleibt Paul Poiret, den sie „le magnifique“ nannten. Den Großartigen.
Paul Poiret, la mode est une fête. Musée des Arts Decoratifs. Bis 11. Januar
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