Als ich zuletzt 2018 in Mariupol war, roch die Stadt nach Meer und Eisenerz. Das Meer war bräunlich und sah nicht gerade einladend aus, die Einheimischen sagten, man fahre am besten zwanzig Kilometer weiter westlich, dort sei das Wasser klar und sauber. Ein feiner Dunst lag über der Stadt, und ich habe sowohl diese rostigen Schwaden als auch den leicht beißenden Geruch der mit Eisenerz vermischten Meeresluft sofort erkannt. Denn genauso hat die Stadt auch vor fünfundzwanzig Jahren gerochen, als ich sie zum ersten Mal besuchte.

Andere Städte im Donbass riechen anders. Nach Kohle zum Beispiel. Nach Blut und Schweiß. Nach Alkohol. Oder nach Aprikosen. Auf jeden Fall im Osten und im Süden der Region. Denn wie die 1985 in Perwomajsk im Oblast Luhansk 1geborene Dichterin Ljubow Jakymtschuk schreibt: „Da, wo keine Aprikosen mehr wachsen, fängt Russland an.“

Ende Juli kontrollierte Russland zwar mit über 95 Prozent des Verwaltungsgebietes fast den gesamten Oblast Luhansk, aber nur etwas mehr als zwei Drittel des Oblasts Donezk. Der Großteil der russischen Eroberungen geht einerseits auf die russische Aggression von 2014 zurück, als die sogenannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk ausgerufen worden sind, andererseits – damals zusammen mit einem Teil des ukrainischen Südens – auf die ersten Wochen und Monaten nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022, wobei die Blockade und die Bombardierungen von Mariupol besonders brutal waren und zehntausende zivile Opfer zur Folge hatten.

Seit tausend Tagen umkämpft

Nachdem es den ukrainischen Streitkräften im September 2022 durch eine Reihe von überraschenden Gegenoffensiven gelungen ist, die Gebiete um Charkiw sowie die Regionalhauptstadt Cherson mit anliegenden Gegenden am westlichen Ufer des Dnipro zu befreien, hat sich am Verlauf der Frontlinie nicht mehr viel geändert. Zwar konnte Russland einige Städte wie Bachmut oder Tschasiw Jar im Donbass mit enormen Verlusten an Soldaten und Technik erobern, aber insgesamt sahen die Fortschritte der russischen Armee ziemlich bescheiden aus. Wie das ukrainische OSINT-Projekt Deep State UA ausrechnete, beliefen sich die Gebietsgewinne der Invasoren seit November 2022, also in insgesamt über 1000 Tagen, auf weniger als ein Prozent des international anerkannten ukrainischen Territoriums.

Unter diesen Umständen klingt die Forderung Putins nach Abzug der ukrainischen Truppen aus dem Donbass besonders zynisch. Doch es ist viel mehr, als der Wunsch, die Ukrainer zur Aufgabe ihres Staatsgebiets zu zwingen, das Russland militärisch seit über dreieinhalb Jahren nach dem Überfall vergeblich zu erobern versuchte. Und es geht weit mehr als einen schlichten „Gebietstausch“ hinaus, bei dem beide Seiten Zugeständnisse machen, wie es die US-Administration nennt, oder die Eingliederung neuer Länder in das von Putin imaginierte „Großrussische Reich“.

Denn der russische Staatschef weiß ganz genau, wovon er spricht. Das kampflose Überlassen des westlichen Teils des Donbass würde aus strategischer Sicht einen herben Rückschlag für die ukrainische Armee bedeuten. Das sagen beinahe einstimmig ukrainische und ausländische Experten. Die Ukrainer müssten die gut ausgebauten und befestigten Verteidigungslinien mit zahlreichen Bunkern, Panzergräben und Minenfeldern aufgeben, deren Eroberung durch natürliche Hindernisse wie strategische Anhöhen und Flüsse enorm erschwert wird.

Wenn der restliche Donbass Moskau in die Hände fiele, stünde für die russische Armee ein wichtiger Brückenkopf und ein offener Weg für weitere Angriffe zur Verfügung. Da sich weiter westlich eine weite Steppe ohne natürliche Hindernisse erstreckt, wären Städte wie Dnipro oder gar Poltawa und Charkiw direkt gefährdet. Die Frontlinie würde sich auf einmal um rund 80 Kilometer nach Westen verschieben. Eine wichtige Städteagglomeration um Kramatorsk und Slowjansk mit Industrieanlagen und Bodenschätzen wäre verloren. Über die Menschenschicksale schweigt die Expertengemeinschaft.

Der Donbass, eine ukrainische Geschichte

Nach den letzten Gesprächen in Washington ist es klar, dass die Ukraine keine Gebiete abtreten wird, auch wenn Donald Trump gern einen Deal mit Putin machen würde. Der ukrainische Präsident Selenskyj hat in dieser Frage eine breite Unterstützung in der Bevölkerung. Denn laut einer Umfrage des Kiewer Instituts für Internationale Soziologie wären nur fünf Prozent der Ukrainer bereit, den russischen Forderungen widerstandslos nachzugeben.

Der Donbass sei nie ukrainisch gewesen, behauptet die russische Propaganda. Und diese Aussage – wie grundsätzlich alles, was die russische Propaganda produziert – ist nicht nur eine Manipulation, sondern schlicht und einfach falsch. Administrativ besteht der ukrainische Donbass seit den 1930er-Jahren aus zwei Oblasten – Donezk und Luhansk. Die industrielle Erschließung der Region, die damals zum Russischen Reich gehörte, aber ethnisch – auch wenn relativ dünn besiedelt – genauso wie das heutige Kuban-Gebiet im nördlichen Kaukasus ukrainisch geprägt war, setzte im späten 19. Jahrhundert ein. Westeuropäische – und später auch US-amerikanische – Unternehmer fingen dort mit dem Bau der ersten Kohlengruben und Stahlwerke an.

Der Aufstieg zum größten Industriegebiet bedeutete gleichzeitig eine veränderte Lebensweise und eine massive Russifizierung der Umgebung. Für schwerste Arbeit unter Tage kamen hier Menschen aus ganz Russland und später aus der Sowjetunion zusammen. Sowohl russische Zaren als auch Stalin schickten Kriminelle (sowie politische Häftlinge und Kriegsgefangene) in die Gruben, um sie dort durch Arbeit „umzuerziehen“. Viele ukrainische Bauern, deren Sprache zu „kleinrussischem Dialekt“ degradiert wurde, emigrierten bereits vor dem Ersten Weltkrieg nach Amerika. Sie waren eher bereit, eine Reise über den Ozean zu unternehmen, um in Kanada oder in den USA auf dem Land zu arbeiten, als in eine ein paar Dutzend Kilometer entfernte Stadt zu ziehen und dort als Industriearbeiter zu schuften. Der Holodomor, eine von Stalin 1932-33 verordnete Hungersnot, dezimierte die ukrainische Bauernschaft in der Region weiter.

Nunmehr waren die Städte überwiegend russisch geprägt, die ländlichen Gebiete – wie beispielsweise der Norden der Region Luhansk – sprachen weiterhin Ukrainisch beziehungsweise eine recht wilde Mischung aus Ukrainisch und Russisch (mit Ukrainisch als Basis), die als Surschyk bezeichnet wird.

„Mit meerblauen Augen und flachsgelben Haaren“

Es ist umso erstaunlicher, wie die ukrainische Kultur in diesem Landesteil überlebt hat. Aber mit dem Donbass sind in der Tat viele Dichter, Schriftsteller und Künstler verbunden – entweder wurden sie dort geboren oder haben den Großteil ihres Lebens dort verbracht. Ganz ungefährlich war es selbst nach dem Zweiten Weltkrieg nicht, Ukrainisch zu schreiben und geistlich frei zu bleiben. Viele haben ihren – selbst inneren – Widerstand mit dem Gulag oder gar ihrem Leben bezahlt. Ihre Namen waren jahrzehntelang verboten und sind für westliche Leser weitgehend unbekannt.

Der prominenteste von ihnen ist womöglich der 1985 im Lager Perm-36 zu Tode gequälte ukrainische Dichter Wasyl Stus, der lange Jahre in Donezk gelebt hat. Auch der bei Druschkiwka geborene Oleksa Tychyj hat das sowjetische Lager nicht überlebt. Ivan Dziuba, Myloka Rudenko und Iwan Switlytschnyj mussten teilweise langjährige Freiheitsstrafen verbüßen. Selbst der in der Sowjetzeit anerkannte Dichter Wolodymyr Sosjura, in Debalzewe geboren, wurde in der Nachkriegszeit des „ukrainischen bourgeoisen Nationalismus“ bezichtigt.

„Mit meerblauen Augen / und flachsgelben Haaren / leicht verblichen / das ist keine Flagge / das steht im Schacht / bis zu den Knien im Wasser / mein Vater“, schreibt Lubow Jakymtschuk. Es ist nicht besonders wahrscheinlich, dass sie bald in ihre Heimatstadt zurückkehren kann. Es ist aber extrem wichtig, dass alle Politiker der zivilisierten Welt darauf hinarbeiten.

Juri Durkot lebt als Übersetzer in Lemberg. Seit dem ersten Kriegstag schreibt er für WELT ein vielbeachtetes Tagebuch.

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