Bilder brennen sich ein. Sind sie einmal in der Welt, ist es schwer, sie wieder zurückzuholen. Der Prozess um den Mord an der 21-jährigen britischen Austauschstudentin Meredith Kercher 2007 im italienischen Perugia war von solchen verhängnisvollen Bildern geprägt.

Das Kussfoto, das Merediths Mitbewohnerin Amanda Knox kurz nach der Tragödie in intimer Zweisamkeit mit ihrem italienischen Freund Raffaele Sollecito zeigte, ging um die Welt. Die blauen Augen, das kalte Lächeln, das „All You Need is Love“-T-Shirt, das die 20-jährige Amerikanerin zum Prozess trug – all diese Details wurden zu Steinen des Anstoßes, die das öffentliche Urteil über die bald als „Foxy Knoxy“ und „Engel mit den Eisaugen“ bekannte Sprach-Studentin zementierten. Schnell stand fast: Amanda Knox ist schuldig. Eine kaltblütige Mörderin, deren Sexorgie eskalierte.

Vier Jahre verbrachte die heute 38-jährige Amerikanerin im italienischen Gefängnis. 2009 wurde sie schuldig gesprochen und zu 26 Jahren Haft verurteilt. Wie man jetzt weiß: unschuldig. Ein Berufungsverfahren sprach Knox 2011 frei, 2014 erfolgte ein weiterer Schuldspruch mit einer 28-1/2-jährigen Haftstrafe, 2015 dann der erneute Freispruch in letzter Instanz. Ihre Strafe für die Verleumdung des unschuldigen Bar-Besitzers Patrick Lumumba musste Knox wegen der bereits abgesessenen Jahre nicht mehr antreten.

Über ihre ungerechten Erfahrungen mit der Justiz hat Knox, die inzwischen als Journalistin, Autorin, Produzentin und Mutter in den USA lebt, vor zehn Jahren das Memoir „Waiting to be Heard“ geschrieben. Auf ihren darin geschilderten Erfahrungen basiert die von Knox mitproduzierte und von K.J. Steinberg geschaffene neue Disney+-Serie „The Twisted Tale of Amanda Knox“, die den Tat- und Prozesshergang bis zum ersten Freispruch minutiös nacherzählt.

Die Hauptdarstellerin Grace Van Patten stattet ihre Amanda mit der überbordenden Unbeschwertheit und dem naiven Glauben an sich und ihre Umwelt aus, die man der echten Amanda nicht verzieh. „Dass ich mich für etwas Besonderes gehalten habe, hat mich überhaupt erst hier hergebracht“, heißt es im Voice-over. Das trügerische Gefühl, die Ausnahme zu sein, wurde ihr zum Verhängnis. Als verheerend erwies sich die Illusion, Amanda könne in gebrochenem Italienisch ohne Übersetzer und ohne Anwalt mit der Polizei sprechen. Auf den Satz, um den fiktive Thriller und Krimis normalerweise nicht herumkommen – „Kein Wort ohne meinen Anwalt“ –, wartet man hier vergebens.

Der Schöpferin K.J. Steinberg („This is Us“, „Gossip Girl“) gelingt es, mit Zeitsprüngen, schnellen Szenenwechseln, Voice-over und Perspektivwechseln einen bedrohlichen Stress zu erzeugen, der das Gefühl einfängt, mit Anfang 20 in einem fremden Land mit fremden Sitten und fremder Sprache dem doppelten Trauma ausgesetzt zu sein: erstens, die eigene Mitbewohnerin ermordet in der eigenen Wohnung aufzufinden, und zweitens, von der Polizei in schwindelerregende Ermittlungen hineingezogen zu werden, die von verschiedenen Grenzübertritten geprägt sind. Amanda hatte, wie die Serie überzeugend darlegt, anfangs weder die Zeit noch die Nerven, sich Gedanken darüber zu machen, dass sie womöglich gar nicht als Zeugin, sondern als Verdächtige verhört werden könnte.

Kein Zweifel an der Unschuld

Der Filmklassiker „Die fabelhafte Welt der Amelie“ liefert Amanda in der Mordnacht ihr Alibi und Steinberg ihr Stil-Vorbild für den oft wunderlich-leichtfüßigen Ton, der die Serie trägt. Trotz der stellenweise bunt-freundlichen Ästhetik spart die Nacherzählung Unangenehmes nicht aus: Suizidgedanken im Knast, die sexuelle Belästigung durch einen Gefängniswärter und Amandas zeitweise Resignation.

Die Serie erklärt den skandalösen Schuldspruch mit der haarsträubenden Unprofessionalität der italienischen Provinzpolizei, einem besessenen Staatsanwalt, unter Folter heraus gepressten Falsch-Geständnissen und einer rückständigen Frauenfeindlichkeit der perugianischen Öffentlichkeit. Für letztere gab die Vorstellung der mordenden Sexlustigen, die ständig fremde Männer in die Wohngemeinschaft einlud, einen Vibrator und Kondome offen im Badezimmer herumliegen ließ und sich nicht an die Putzregeln hielt, ein wunderschönes Monster ab. Amanda wurde zur Femme Fatale, die sogar ihren italienischen Freund, den sie gerade mal eine Woche kannte, angeblich mit in ihre Abgründe hineinzog. Lieber wollte man an einen eskalierenden Streit zweier konkurrierender Frauen glauben als an den Vergewaltigungsmord durch einen Mann.

Die Serie erkundet, warum bis heute alle den Namen Amanda Knox kennen, aber nicht den des eigentlichen Mörders: Ruby Guede. Der Ivorer wurde für den Mord an Meredith verurteilt und 2021 nach 14 Jahren Haft wegen guter Führung vorzeitig entlassen. Obwohl an der Leiche ausschließlich DNA-Spuren von Guede gefunden wurden, gerieten Knox und Sollecito rasch ins Visier der Ermittlungen. Eine DNA-Spur von Knox an einem Küchenmesser wurde später als möglicher Kontaminationsfehler eingestuft, die mangelhafte Sicherung des Tatorts und massive Fehler bei der Spurensicherung kritisiert.

Die acht Folgen zweifeln nie an Amandas Unschuld und beziehen von vornherein Position – anders als noch die Netflix-Doku von 2016, die sich um ein ausgewogeneres Bild bemühte. Trotzdem finden hier verschiedenste Sichtweisen ihren Raum, darunter die des Staatsanwalts Giuliano Mignini und die des ebenfalls unschuldig inhaftierten Raffaele Sollecitos, deren Erzählstimmen streckenweise durch die Serie führen. Auch die Familie der ermordeten Meredith Kercher gerät nicht in Vergessenheit. So sind wir etwa mit Merediths Mutter und Schwester allein im Raum, als sie die Leiche identifizieren.

Immer wieder heißt es: Amanda lebt noch, Meredith nicht. Die Serie bemüht sich, das Mordopfer nicht hinter dem Justizopfer verschwinden zu lassen. Dass es trotzdem zu Gegenwind kommen musste, war bei einem so brisanten True-Crime-Stoff wie diesem kaum zu verhindern. Laut „Newsweek“ werfen der Familienanwalt der Kerchers und Merediths Schwester (die Eltern starben 2020) Amanda Knox vor, die Schmerzen der Familie und die Erinnerung an Meredith nicht zu respektieren, sondern unnötigerweise auszubeuten.

Verständlich ist aber auch Amandas Intention, ihre Geschichte so lange weiterzuerzählen, wie es Menschen gibt, die sie immer noch bezweifeln. „The Twisted Tale of Amanda Knox“ handelt von der Kraft der Fiktion und ist sich dabei bewusst, selbst auch nichts anderes zu tun, als eine weitere Version der Wahrheit den bereits bestehenden hinzuzufügen. Das wird deutlich, als die Kläger vor Gericht eine fiktive Nachstellung des Mordes zeigen, wie er sich durch Knox und Sollecito zugetragen haben könnte.

Disney reißt die Deutungsmacht nun wieder an sich und setzt den tief eingebrannten Bildern neue entgegen: die einer Amanda, die mit Rafaelle eine zarte, allen Krisen trotzende Liebe verbindet, die einer Amanda, die Halt findet in den Gesprächen mit dem Gefängnisseelsorger, die einer Mutter, die zusammenbricht, weil sie ihre Tochter vor den Schmerzen dieser Welt nicht beschützen kann, und die einer Tochter, die sich mit Füßen und Händen dagegen wehrt, erneut in ihre kleine Zelle gesperrt zu werden.

Die Regisseurin KJ Steinberg verkündete, mit der Serie „die Klischees von True Crime“ durchbrechen zu wollen. Es handle sich nicht um ein „Whodunnit“, sondern vielmehr um ein „How-dunnit“ und ein „Why-dunnit“. Wie und warum konnte eine unschuldige 20-jährige Austauschstudentin zu Unrecht inhaftiert werden?

Neben der von Steinberg als Leitthema ausgemachten „Anatomie der Voreingenommenheit“ geht es noch um so vieles mehr: um Resilienz und Vergebung, Liebe und Familie, Freundschaft und Einsamkeit, Verrat und Vertrauen, sowie um Selbsterkenntnis und Identitätssuche in einer Welt, die einem wieder und wieder falsche Definitionen überstülpt.

Die Serie „The Twisted Tale of Amanda Knox“ läuft ab dem 20. August auf Disney+. Am Starttag werden zwei Folgen veröffentlicht, dann folgt jede Woche eine neue.

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