Durch das Tal ziehen die Wolkenbänder wie drohendes Unheil. Hier, im Voralpenland unweit des Genfer Sees, ragt zwischen sanften Almhügeln und spitz emporschießenden Zacken der in der Ferne thronenden Alpengipfel das Mittelalterstädtchen Gruyères oder Greyerz mit seinem Château aus dem 13. Jahrhundert hervor. Am Ortseingang starren den Besucher aus einem Wildgehege weit aufgerissene Hirschaugen an. In der Ferne grasen stumm die Kühe. Greyerz, im Kanton Fribourg gelegen, ist bekannt für seine Sennereien, aus denen der gleichnamige Hartkäse kommt – und für Aliens.

Als der Hollywood-Regisseur Ridley Scott Ende der 1970er-Jahre mit den Arbeiten an seinem Film „Alien – das unheimliche Wesen aus einer fremden Welt“ beginnt, sucht er nach jemandem, der imstande ist, sein anspruchsvolles visuelles Konzept umzusetzen. Fündig wird er bei dem Schweizer Künstler Hans Ruedi Giger. HR Giger, wie der 1940 in Chur geborene Sohn eines Apothekers in Science-Fiction-typischer Abkürzungsmanier genannt wird, entwirft und modelliert die Monster der ersten Alien-Filme. Darunter den monströsen „Xenomorph“, ein biomechanisches Mischwesen mit scharfen Reißzähnen und phallusförmigem Hinterkopf.

Als der Film 1979 in die Kinos kommt, ist er nicht nur einer der ersten Hollywood-Actionfilme, der mit Sigourney Weaver in der Hauptrolle eine Heldin hat, sondern revolutioniert auch das Science-Fiction-Genre. Denn erstmals stellt „Alien“ Außerirdische nicht als trottelige Marsmännchen in trashiger B-Movie-Manier dar, sondern als feindselige Horrorwesen mit Raubtierinstinkten. Für seine Designs wird Giger ein Jahr später bei der Verleihung der Academy Awards mit dem Oscar in der Kategorie „Beste visuelle Effekte“ ausgezeichnet.

In das düster-romantische Gruyères verschlug es Giger erstmals anlässlich einer Ausstellung zu seinem 50. Geburtstag. Als einige Jahre später die weiter unten im Ort befindliche Festungsanlage des Schlosses, das Château St. Germain, zum Verkauf stand, erwarb Giger das Gebäude und richtete darin ein Museum mit seinen Werken ein. Heute ist das verwinkelte Museum HR Giger in den alten Gemäuern Anlaufpunkt für „Alien“-Fans  aus aller Welt.

Und die „Alien“-Saga ist auch nach mehr als 46 Jahren lebendig. Als Walt Disney 2019 die 21st Century Fox für eine Summe von umgerechnet 75 Milliarden Euro übernahm, gingen auch die Rechte der „Alien“-Reihe mit über. Nach dem Film „Alien: Romulus“ aus dem vergangenen Jahr, geht mit „Alien: Earth“ ab dem 13. August die Saga nun im Serienformat auf Disney+ an den Start. Die Handlung ist im Jahr 2120 und damit zwei Jahre vor Ridley Scotts erstem „Alien“-Film angesiedelt.

Darin wird die Erde von einer Handvoll global agierender Konzerne beherrscht, darunter die Firma „Prodigy Corp.“ des Jungmilliardärs und Tech-Wunderkinds Boy Kavalier. Dieser hat einen Weg gefunden, das Bewusstsein todkranker Kinder in synthetische Erwachsenenkörper zu übertragen. Als ein Raumschiff in „Prodigy City“ abstürzt und die an Bord befindlichen Aliens ausbrechen, nutzt Kavalier die Humanoidin und Hauptfigur Wendy, um die über der Erde verstreuten Xenomorphen zu fangen.

Die frühen Nebel sind verzogen, die Julisonne sticht auf das Château St. Germain. Vor dem Eingang des Museums wartet Marco Witzig, ein hochgewachsener Schweizer,  ganz in Schwarz gekleidet – natürlich, denn Schwarz war HR Gigers Farbe, die das Werk und Leben des 2014 verstorbenen Künstlers prägte. Mit einer Handbewegung bittet er in das Museum, dessen Boden mit Kunststoff-Platten ausgelegt ist, in die filigrane Muster aus technisch-organischen Motiven eingearbeitet sind. „Biomechanische Matrix“ nenne man das, erklärt Witzig in den verwinkelten Gängen des Gemäuers. Vor den „Atomkindern“ bleibt er stehen, eine in den frühen 1960ern entstandene Bilderserie, die zwergenhafte, verkrüppelte Kreaturen mit dicken Brillen zeigt: „Gigers Methode war es, die Kollektivängste einer Generation und den Horror in etwas Ästhetisches zu verwandeln.“

Der Kalte Krieg, die Atomgefahr, die drohende Überbevölkerung, die fortschreitende Fusion zwischen Mensch und Maschine. „Die Wissenschaft als todbringende Disziplin, die zum nuklearen Fallout und zum Napalm führte.“ Auch die Anti-Atom-Bewegung habe seine Motive damals aufgenommen, so Witzig, und in dem Moment, als er das sagt, fliegt tatsächlich eine Fledermaus über seinen Kopf durch das dunkle Museum mit den niedrigen Decken.

Witzig geht in den Nebenraum und bleibt vor dem überlebensgroßen Modell des Xenomorph stehen, Gigers wohl berühmtester Schöpfung aus dem ersten „Alien“-Film. Ein mit Rohren, Drähten und Teilen von Staubsaugerschläuchen versehenes und einer schuppenartigen Haut überzogenes Geschöpf mit Raubtierklauen und einem echsenhaften Schwanz. In Kontrast dazu steht das fein modellierte, weibliche Gesicht des Monsters, das in einen riesigen, langgezogenen Hinterkopf übergeht. Regisseur Ridley Scott gab Giger die Anweisung, den Schauspielern das schaurige Monster vor seinem Einsatz auf gar keinen Fall zu zeigen. Er versprach sich davon eine größere schauspielerische Leistung.

„Gigers Entwurf des Xenomorph hat viele Freudsche Anspielungen“, erklärt Witzig. „Das Alien als die Verkörperung aller männlichen Ängste. Ein weibliches Wesen mit phallischem Hinterkopf, das im Mann Eier legt und ihn dann auffrisst.“ In den späteren „Alien“-Filmen sei diese psychologische Komponente leider verloren gegangen, so Witzig.

Die neue „Alien: Earth“-Serie versucht, an diese Deutungen wieder anzuknüpfen. So hat etwa gleich in der ersten Folge der Xenomorph einen Kurzauftritt und jagt den Piloten des später havarierenden Raumschiffs. Und auch die Tatsache, dass sich in „Alien: Earth“ die außerirdischen Kreaturen erstmals über die ganze Erde ausbreiten, schließt gewissermaßen an die gesellschaftliche Kollektivangst einer unkontrollierbaren Gefahr aus den 1960ern und 1970ern an.

Beim Erzählen über Gigers Werk wirkt Witzig mitunter wie selbstvergessen, als tauche er ab in eine andere Welt. Der Anfang 50-Jährige, der im Beirat der 2022 gegründeten HR Giger Foundation sitzt und Gigers Assistent war, studierte „aus Vernunftgründen“, wie er sagt, zunächst Wirtschaft in Zürich, ehe er in die Kunst reingerutscht sei. „Ich hatte keinen Bock darauf, in einer Bank mit Krawatte rumzulaufen“, meint er, während er eine steile Rundtreppe nach oben steigt. Giger lernte er Anfang der 2000er-Jahre kennen, als er ihm für 10.000 Franken ein Bild abgekauft habe. Mittlerweile hänge „No. 610 Pump Excursion I.“ im Museum und sei ein Vielfaches von damals wert.

Im Obergeschoss betritt Witzig einen Raum mit Gebälk an der Decke, in dessen Mitte ein wuchtiger Tisch mit gothicartigen Verzierungen an den Tischbeinen steht. Auf einem der Stühle mit den hohen aus einer Knochenstruktur geformten Rückenlehnen sitzt eine zierliche Dame. Mia Bonzanigo, die Ex-Frau von Giger, reicht die Hand und lächelt zur Begrüßung. Bereits kurz, nachdem sich Mia und Hans Ruedi kennenlernten, begleitete sie ihn 1978 in die Shepperton Studios nach London, wo sie ihn bei der Arbeit für „Alien“ unterstützte. Aus Knochen und Kadavern toter Tiere modellierte das Paar dort die Monster und die gerippeartigen Hintergrundlandschaften des Planeten, auf dem im Film das Raumschiff landet.

„Es war kein einfaches Verhältnis zwischen Giger und den Engländern vor Ort und Hollywood im Hintergrund“, erzählt Madame Bonzanigo. Giger sei immer vorsichtig gewesen. „Eigentlich war ich immer diejenige, die sich mit den Leuten dort auseinandergesetzt hat. Immer, wenn es was zu diskutieren gab, meinte er: ‚Geh du da hin‘“. So sei auch der Oscar 1980 keineswegs förderlich für Gigers Karriere gewesen, erzählt Bonzanigo. „Man hat ihn danach zu einem Filmdekorateur degradiert.“ In der Kunstwelt habe man ihn danach nicht mehr ernst genommen. „Das hat ihn bis zu seinem Tod geschmerzt.“

Giger und Bonzanigo heirateten 1979. Nach nur anderthalbjähriger Ehe erfolgte zwar die Scheidung, dennoch arbeitete Mia noch 20 Jahre lang an Gigers Seite und blieb bis zu dessen Tod eine gute Freundin. In dem 1982 entstandenen Gemälde „Anima Mia“ verarbeitet Giger die Trennung von seiner Frau. Darauf ist eine gespaltene Frauenfigur als schlangenartiger Torso dargestellt, vor deren Gesicht ein Schwert schwebt. Trotz der morbiden und expliziten Darstellungen in seinen Werken, in denen sich oft Alptraum und Erotik oder Geburt und Tod die Hand reichen, sei Giger kein extremer Mensch gewesen, sagt Bonzanigo. Mit den Werken ihres Mannes habe sie nie ein Problem gehabt und betont, dass auf seinen Bildern keine der Frauen – auch nicht die Anima Mia –  einen leidenden Ausdruck habe.

In seinen Arbeiten habe Giger seine Alpträume verarbeitet, unter denen er seit seiner frühen Kindheit litt. „Heute geht man zum Psychiater, er hat gemalt“, so Bozanigo. „Er hat sich auch überall hineingelesen, gerade auch in die Psychologie. Er hatte eine riesige Bibliothek. Wenn man bei uns ins Bett wollte, musste man erst über eine Beige (schweizerisch: Stapel, d. A.) Bücher steigen, bis man ins Bett kam“, erzählt Bonzanigo lebhaft. Seine großen Lieblinge seien Alfred Kubin und Gustav Meyrink gewesen, auch Dali habe er geschätzt. Für viele Betrachter seien Gigers Bilder so gewesen, als ziehe jemand einen Vorhang zurück.

Eine ähnliche Erfahrung machte seinerzeit auch der Harvard-Professor und US-Psychologe Timothy Leary. Der als „LSD-Guru“ bekannt gewordene Leary kannte Giger. Überliefert ist ein Satz von Leary: „Giger, du siehst mehr als wir domestizierten Primaten.“

„Timothy hat ja auch eine Weile bei Giger in Zürich gewohnt“, erzählt Mia Bonzanigo. Sie bestätigt, dass Giger in LSD ein Vehikel sah, um in tiefere Bewusstseinsebenen vorzudringen. „Dass dort vermutlich nicht nur Milch getrunken wurde, das liegt ja in der Natur der Sache. Das waren die 70er, unsere Generation hat das alles ausprobiert, wir haben einfach unsere Erfahrungen damit gesammelt“, erzählt die 74-Jährige mit einem Funkeln in den Augen. Wie Giger war, wenn er auf einem Trip war? „Das kann ich nicht so genau sagen, weil wir meist beide zusammen auf einem Trip waren“, sagt sie und lacht.

Verabschiedung von Madame Bonzanigo. Draußen vor dem Museum hat sich der Himmel wieder zugezogen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite winkt Marco Witzig und betritt die in einem Seitenflügel des Chateaus gelegene Giger Bar. Überwältigung beim Betreten des Etablissements, das Giger noch selbst entwarf und das 2003 seine Pforten öffnete. Mit den gewölbten, in einer knöchernen Wirbelsäulenstruktur geformten Decken, den portalartigen Rundfenstern sowie den Steinplatten mit der gleichen eingravierten biomechanischen Matrix wie drüben im Museum wirkt die Bar wie die Höhle einer außerirdischen Zivilisation. Selbst Besucher, die mit der Ästhetik aus Knochen, Chrom und Aliens wenig anfangen können, müssen anerkennen: Mit diesem Ort hat ein Künstler sein ästhetisches Konzept radikal und bis ins kleinste Detail zur Vollendung gebracht.

Witzig steht an der geschwungenen, aus Beton gegossenen und mit Chrom überzogenen Bar und rührt mit einem Löffel in der Kaffeetasse vor sich. Wieso ist und war Giger zu Lebzeiten eigentlich nur eingefleischten Filmfans und Kunstkennern ein Begriff? „Giger hat sich zu Lebzeiten generell schlecht verkauft“, meint er. „Er hätte lauter schlaue Dinge zu seinen Bildern sagen können, aber er hatte keine Lust dazu.“

Die Schweizer Kunstkritik warf ihm Kitsch vor, und die offiziellen Stellen wollten auch nichts mit ihm zu tun haben. So wurde er etwa bei der 700-Jahrfeier der Schweiz von den Kunstbehörden links liegengelassen und durfte keinen Beitrag einreichen. Hinzu sei sein Faible für das Nachtleben gekommen, erzählt Witzig. So habe Giger etwa in den 1980ern den Besitzer des ehemaligen Zürcher Nachtclubs Ugly zu seinem Manager gemacht. Dort sei er auch oft mit schönen Frauen beim Feiern gesehen worden, was ihm Artikel in Boulevard-Blättern wie dem Schweizer „Blick“ und der „Bild“ beschert habe. Über solch einen Lifestyle rümpfte die Kunstszene nur die Nase.

Stattdessen hätten sich vor allem gesellschaftliche Randgruppen zu Giger hingezogen gefühlt, auch wegen der sexuellen Komponente in seinen Werken. „Je bürgerlicher das Milieu, desto mehr wird ja das Sexuelle verleugnet“, so Witzig. Über diese Randgruppen sei die Ästhetik Gigers dann langsam und in abgeschwächter Form wieder in den Mainstream eingesickert. „Von den Matrix-Filmen der Wachowski-Geschwister über zahlreiche Computerspiel-Designer bis hin zur aktuellen Berlin-Ästhetik mit ihrer Mischung aus Gothic, Techno-Berghain-Style, Balenciaga und so weiter.“

Witzig leert seine Tasse und verabschiedet sich. Aber Moment noch, welcher „Alien“-Teil ist eigentlicher sein Liebster? „Der erste natürlich“, entgegnet er und versichert, dass er sich die neue Serie auf Disney+ aber ansehen werde. Draußen hat sich der Himmel wieder zugezogen. Beim Abstieg aus La Gruyères schleicht leichter Nebel um die Baumkronen. In der Ferne läuten Kuhglocken, und aus dem Hirschgehege am Ortseingang dringt ein tiefes Röhren. Es klingt wie der Klagelaut eines fremden Wesens, aus dunklen Nachtmahren in die Bergwelt entstiegen.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke