Da sitzt sie, eine schmale, nur auf den ersten Blick zerbrechlich wirkende Frau voller Energie in ihrer kleinen Wohnung in Berlin-Pankow und erzählt von ihrem Leben. Ihrem Leben? Je länger sie erzählt, will der Singular irgendwie nicht passen. Wie viele Leben passen in ein Leben? Gerti Tetzner, 88 Jahre alt, beginnt vielleicht gerade wieder ein neues, nun da in wenigen Tagen ihr Roman „Karen W.“ im Aufbau Verlag erscheint. 

Vor rund 60 Jahren begann das zweite Leben von Gerti Tetzner: Damals hatte sie sich entschieden, aus der DDR-Juristenlaufbahn auszusteigen und sich stattdessen lieber in verschiedenen Jobs durchzuschlagen – und zu schreiben. Am 20. April 1965 schickt die damals 28-Jährige, die in Leipzig lebt, einen Brief an die ihr nicht persönlich bekannte Schriftstellerin Christa Wolf und legt das Manuskript eines Romananfangs bei, 36 Seiten lang.

Zwei Monate später kommt ein Antwortbrief der Autorin von „Der geteilte Himmel“. Der fällt ziemlich hart aus, der Text hat Wolf nicht gefallen (der Stil sei „Unterhaltungsliteratur“, „zu viele Klischees“). Aber: Die „Problematik“ sei interessant, die „wachsende innere Inaktivität unter vielen jungen Leuten“. Literatur könne Kräfte wecken, „die unbewusst vorhanden sind und Bestätigung, Ermutigung, Anstoß brauchen“, so Wolf an die angehende Autorin: „Sehr oft wird also die Literatur, die ehrlich solche Ziele verfolgt, kritisch sein müssen.“ 

Kritisch, sehr kritisch war auch dieser erste kollegiale Rat, dennoch entwickelte sich aus diesem Briefwechsel eine jahrzehntelange Freundschaft, zu Christa und auch zu deren Mann Gerhard Wolf. Tetzner hütete später das Haus der Wolfs in Mecklenburg, und gehörte seit Mitte der 80er zur legendären „Weiberrunde“ befreundeter ostdeutscher Autorinnen.

Gerti Tetzner gibt zu, dass sie damals „ein paar Tage schlucken“ musste, aber umgeworfen habe sie Wolfs Kritik an ihren Schreibversuchen nicht. „Ich bin ein ziemlich eigensinniger Mensch. Wenn ich ihre Meinung angenommen hätte, hätte sich ja das Problem in der Realität nicht erledigt.“ Im Briefwechsel der beiden kann man nachlesen, dass es ganz so leicht doch nicht war; erst fast drei Jahre später traut sie sich wieder, an das strenge Vorbild eine neue Fassung zu schicken. „Aber es ist seltsam mit dem Schreiben: Man kann’s nicht mehr lassen“, schrieb sie im April 1968.

Christa Wolf als „Verbündete“

Das „Problem in der Realität“, das war damals der immer größer werdende Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit im DDR-Staat, zwischen ideologischen Phrasen und dem Alltag der Parteidiktatur. Überall stieß Tetzner auf autoritären Geist und Obrigkeitshörigkeit; selbst die vom Sozialismus überzeugten wurden immer wieder zur Selbstverleugnung und Verbiegung gezwungen. „Haben wir das wirklich gewollt?“, das sei damals ihre Hauptfrage gewesen. Und die musste zur Sprache kommen. Dinge fraglos hinzunehmen, das war nicht ihre Sache, und das galt auch für die Freundin Christa Wolf selbst, in der sie eine „Verbündete“ suchte (und auch fand), mit der sie aber auch später keineswegs immer einer Meinung gewesen sei. 

„Ich kann nichts Untertäniges leiden“, das sagt Gerti Tetzner heute ganz beiläufig, in ihrer klaren, ungekünstelten, dabei fast druckreif formulierten Art. Dabei ist dieser Satz so etwas wie ihr Grundprinzip. „Die Art, die Dinge so zu sehen und anzuzweifeln wie ich damals, die war nicht verbreitet. Es herrschte noch ein gesellschaftlicher Konsens. Wir waren so erzogen, dass die Erfahrung des Einzelnen nicht so viel zählte wie die allgemeine Weisheit. So fühlt man sich als Einzelner unsicherer. Man muss dann durch die Realität immer wieder auf dieselbe Sache stoßen, bevor man sich sagt, das, was ich sehe und höre, ist wirklich so.“

1974 schließlich erschien Gerti Tetzners Roman „Karen W.“. Er erzählt von einer Frau Anfang 30, die wie sie selbst aus der Juristenlaufbahn ausstieg und sich nun auch von ihrem an der Universität tätigen, von ständigen Kompromissen zermürbten Ehemann trennt und mit der kleinen Tochter zurück in ihr thüringisches Heimatdorf zieht. Aber auch dort, beim körperlich harten Ernteeinsatz in der Genossenschaft, stößt sie auf Missstände und Widersprüche des realen Sozialismus. 

Solche Fragen trieben damals viele Menschen um. Der Roman war ein Erfolg. Die für DDR-Verhältnisse hohe Erstauflage war schnell verkauft, weitere folgten bis in die 80er-Jahre, es gab Übersetzungen, unter anderem ins Dänische, Norwegische, Schwedische. Und dennoch sollte es die einzige Romanveröffentlichung von Gerti Tetzner bleiben.

„Karen W.“ gehörte damals zur Welle einer auch im Westen stark rezipierten DDR-Literatur von Frauen, neben Christa Wolf, Irmtraut Morgner oder Brigitte Reimann. Denn neben den ungeschönten Schilderungen sozialistischer Lebenswelten, der Gängelung an der Universität, den Funktionärsintrigen auf dem Land, erzählte Tetzner auch von den gescheiterten Träumen einer Frau, deren emotional erkaltete Ehe kein Gegengewicht mehr zum Druck äußerer Verhältnisse bilden kann: Es bleibt ihr der Rückzug aufs Land, ins prekäre Dasein als alleinerziehende Mutter.

Mit ihrer Protagonistin teilte Gerti Tetzner nicht nur die Herkunft aus einer bäuerlichen Familie im Thüringischen, wo sie 1936 in Wiegleben geboren wurde; auch ihr Vater war als Nationalsozialist verurteilt worden; eine Bürde für das ehrgeizige junge Mädchen, das es als erste und einzige aus ihrem Dorf auf die Oberschule nach Gotha schaffte. Die Wahl des Jura-Studiums, auch dies wie bei ihrer Romanfigur, sei ein Zeichen maximaler Distanzierung von ihren Wurzeln gewesen.

Tetzner gehörte wie Christa Wolf zu jener Generation, die mit der Nazi-Vergangenheit im Rücken nach Orientierung suchte. „Unsere Mütter und Väter hingen da mit drin, an denen konnte man sich nicht orientieren. Es musste also etwas anderes sein, als man aus der Kindheit mitbrachte.“ Als junge Frau überzeugte Sozialistin, stieß Gerti Tetzner schon im Jura-Studium auf erste Widerstände: „Es wurde mir immer vorgeworfen, dass ich zu spontan sei. Dabei ist es das vielleicht Wichtigste überhaupt, dass ein Mensch spontan ist. Aber die Disziplin ist dann fragwürdig.“ 

Als ihr Anfang der 60er-Jahre klar würde, dass sie als Richterin auch Republikflüchtige würde verurteilen müssen, stieg sie aus, schlug sich mit verschiedenen Jobs durch und vertraute ihre Erfahrungen und Zweifel ihrem Tagebuch an – die Grundlage für „Karen W.“ Mit ihrem damaligen Mann, als Philosoph an der Universität beschäftigt und ebenfalls mit den Verhältnissen hadernd, schloss sie einen Pakt. „Wenn ich wieder Fuß gefasst habe und Geld verdiene, dann geht er raus.“ (Was dann später auch geschah, Reiner Tetzner wurde Privatgelehrter und Experte für nordische Mythologie.)

In einem der in den 60ern eingerichteten „Zirkeln schreibender Arbeiter“ lernte Gerti Tetzner unter anderem Wolfgang Hilbig kennen („ein großer Schweiger, der saß immer nur da und war still. Wenn er dann den Mund aufmachte, dann kam auch etwas raus.“) und gelangte ans Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig. Das war kurz vor dem Prager Frühling 1968. Als dann von den Schreibstudenten verlangt wurde, den russischen Einmarsch gutzuheißen, blieben viele standhaft, fast ein Drittel musste das Institut verlassen, darunter auch Tetzner. Doch da war der Roman schon beim Verlag. 

Das Erscheinen von „Karen W.“ 1974 fiel in jene kurze Phase nach dem Führungswechsel von Ulbricht zu Honecker, als sich DDR-Kulturschaffende Illusionen über eine Öffnung und Liberalisierung machen konnten. 1973 verbreiteten die Weltjugendspiele in Ost-Berlin Optimismus. „Man hatte“, so Tetzner, „das Gefühl, dass man noch lebendig bleiben kann irgendwie. Mit der Biermann-Geschichte hatte sich das erledigt“. Die Ausbürgerung des Dichters und Liedermachers Wolf Biermann im November 1976 nach seinem Konzert in Köln erzeugte einen Schock weit über Literaten- und Künstlerkreise hinaus: „Ich dachte, das Nachfragen und das eigene Denken wird mit ausgebürgert. Es betrifft uns alle. Eigentlich war es für mich ab da gelaufen, da hatte ich keinerlei Erwartungen mehr.“ 

Die Folgen sind bekannt. Prominente Künstler und Intellektuelle protestierten, Stefan Heym, einer der dreizehn Erstunterzeichner des berühmten Offenen Briefs, hat diese bittere Zeit in seinem Buch „Der Winter unseres Missvergnügens. Aus den Aufzeichnungen des OV Diversant“ ausführlich geschildert. Weniger bekannt ist, dass es auch in Leipzig einen Protestbrief gab, zu deren vier (!) Unterzeichnern neben Peter Gosse, Gunter Preuß, Manfred Jendryschik auch Gerti Tetzner gehörte. Wenn sie heute von den anschließenden Aussprachen erzählt, den belehrenden Diskussionen im Schriftstellerverband, „als wäre man noch ein Schüler und könnte nicht selber denken“, ist ihre Stimme immer noch voller Empörung. Auch Tetzner war längst ein „OV“, ein Operativer Vorgang der Staatssicherheit, wie sie nach der Wende in ihrer Akte detailliert nachlesen konnte. 

Nebenbei arbeitete sie an ihrem zweiten Roman, der den Titel „Die Oase“ tragen sollte und für deren Hauptfigur eine Freundin das Vorbild abgab, die als Kindergärtnerin die offizielle DDR-Erziehungspolitik unterlief. „Die mussten etwa ins Spielregal Panzer und solche Sachen stellen.“ Vom Mitteldeutschen Verlag wurde das Buch abgelehnt, in einer Art, die Tetzner noch heute wütend macht. „Die haben mir das auf den Tisch gehauen, als wäre das etwas, was man nur mit Handschuhen anfassen darf.“ 

Durch einen privaten Kontakt zum Luchterhand Verlag ergab sich plötzlich die Möglichkeit einer Publikation in der Bundesrepublik – was andere Autoren schon praktizierten und damit auch der DDR als Devisenbringer dienten. Da stand dann bei Tetzner, die damals gerade von ihrem Mann getrennt war und ohne offiziellen Wohnsitz in Berlin lebte, ein Stasi-Mann vor der Tür und sagte: „Wenn Sie das machen, dann können Sie gleich mit dem Manuskript unterm Arm in den Westen marschieren.“ Aber das konnte sie nicht.

Tetzners schon erwachsene Tochter hatte gerade ihren Traumjob in einer berühmten Korbflechterei in Prenzlauer Berg gefunden – ein Kunsthandwerk, das es schon damals im Westen kaum mehr gab – und war nicht bereit, das aufzugeben. „Ohne sie wegzugehen, war unmöglich“, sagt Gerti Tetzner: „Wir brauchten uns in unserer Denkart gegenseitig.“ Eine Weggabelung von vielen. Und wieder begann ein neues Leben, eines ohne Schreiben. „Es war mir kein Buch wert. Das Leben ging immer vor.“ 

„Die Oase“ verschwand in der Schublade, Tetzner veröffentlichte noch ein Kinderbuch und, gemeinsam mit ihrem früheren Mann, einen Reise-Fotoband über Dänemark (wohin sie durch „Karen W.“ enge Kontakte hatte). Der Staat hatte eine Autorin zum Schweigen gebracht. Nach der Wende nahm die Geschichte eine tragische Wendung. Die Korbflechterei hatte unter Marktbedingungen keine Chance; die Tochter nahm sich das Leben. Als der unsägliche „deutsch-deutsche Literaturstreit“ um Christa Wolf tobte, litt Tetzner unter schweren gesundheitlichen Problemen und fand ein paar Jahre Zuflucht bei einem befreundeten Ehepaar auf dem Land in Niedersachsen, „um wieder auf die Beine zu kommen“. 

Als sie dann nach Berlin zurückkehrte, konnte sie auf die Juristerei zurückgreifen und arbeitete in einer Schuldnerberatung. Die Schicksale, mit denen sie dort konfrontiert wurde, hätten sie von ihrem eigenen abgelenkt. An der nach der Wende fortgeführten „Weiberrunde“ um Christa Wolf nahm sie wieder regelmäßig teil, auch wenn sie nichts Literarisches vorzutragen hatte. „Manchmal haben wir überhaupt nichts vorgelesen, weil wir vor lauter Tratschen nicht zur Literatur kamen.“ 

Mit Mitte 50 nimmt Gerti Tetzner ein achtjähriges Pflegekind aus dem Heim an, die ihr zu einer zweiten Tochter wird, und geht in Frührente. Noch ein Neuanfang, mit vollem Risiko – „nach dem Gesetz war ich eigentlich schon viel zu alt“ –, der sich als Glücksfall erwies. Später kümmert sie sich dann intensiv um die Enkeltochter, um die berufstätigen Eltern zu entlasten.

Wenn Tetzner von ihrer Zeit als „Oma als Wahlberuf“ erzählt, von gemeinsamen Erkundungen mit der (inzwischen 16-jährigen) Enkelin, dann ist ihre Stimme auch nach zwei Stunden Gespräch wieder hellwach und ganz jung. Und man glaubt man sofort, dass sie das Schriftstellerinnendasein all die Jahre nicht vermisst hat. „Es ist schön zu schreiben, aber es ist nicht das A und O der Existenz.“

Doch halt: Zwei Bücher habe sie nur für die Enkelin geschrieben und selbst illustriert, Auflage: je ein Exemplar. „Es war ein schönes Leben. Wenn man überlegt, wo ich nach der Wende gestartet bin, dann war nicht abzusehen, dass ich das noch mal erlebe. Da kann man nur dankbar sein.“ 

Neue Lust zu schreiben

Um ihre Tochter nicht damit zu belasten, habe sie irgendwann ihre Papiere, Briefe, Tagebücher „entsorgt“, was Literaturwissenschaftlern Tränen in die Augen treiben dürfte. Wenig später meldet sich Nele Holdack, Lektorin des Aufbau-Verlags, mit der Idee, „Karen W.“ neu herauszubringen, was Gerti Tetzner erst verwundert („Was, das alte Buch?“), dann aber auch auf neue Gedanken bringt: „Ich habe noch mal Zeit, ich habe überhaupt nichts zu besorgen, die Enkelin ist groß, ich habe ein Dach überm Kopf und Ruhe hier. Einen so idealen Zustand hatte ich ja noch nie im Leben. Jetzt könnte ich eigentlich auch wieder schreiben. Und jetzt habe ich auch wieder Lust dazu.“ 

In den letzten zwei Jahren entstanden neue Erzählungen, etwa über ihre leibliche Tochter oder über ihren eigenen Vater, der ihr einst, an seinem 90. Geburtstag endlich von seiner Nazi-Zeit erzählte. Genug für einen kleinen Band, der im nächsten Jahr erscheinen soll. Und auch das schon verschollen geglaubten „Oase“-Manuskript ist durch einen Zufall in einem fast unlesbaren Durchschlag wieder aufgetaucht. Es ist eine unglaubliche Wendung, dass für Gerti Tetzner nun, mit fast 90 Jahren, noch einmal ein neues Leben begonnen hat – als Schriftstellerin. Was sie alles zu erzählen hat, passt in kein Buch. 

Gerti Tetzner: „Karen W.“ Roman. Aufbau-Verlag, 398 Seiten, 24 Euro. Die Neuausgabe erscheint am 13. August

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