Irgendwann, wir sind – was wir zum Glück nicht wissen – noch fünf Arien vom Finale entfernt, und die Luft ist im wahrsten Wortsinn ein bisschen raus aus dem geradezu griechisch hocherhitzten Innsbrucker Landestheater, steht der große Mann mit dem hohen, von bunten Federn verzierten Helm auf dem Kopf da. Eine irgendwie kratzige Joppe hat er über der nackten Brust, Shorts trägt er und Sandalen. Agamemnon, legendärer Führer der Griechen, gestrandet in Aulis mit seiner Flotte, in Flaute gelegt von einer rachsüchtigen und mächtigen Göttin, die den Tod Iphigenies, seiner ältesten Tochter, fordert. Als Opfer dafür, dass sie ihm Winde schickt und ihn und alle Griechen weiterziehen lässt in den Krieg gegen die Trojaner.

Boomer mit humanistischer Bildung kennen die Geschichte gerade noch. Allen andern muss man sie inzwischen erklären. Dem Griechenführer geht es in Innsbruck jedenfalls wie uns. „Wie eine Eiche von mehreren Winden“, singt – hoch an Stimme und Wuchs – Martin Vanberg, zerrissen zwischen Tochter und Göttin, Familie und Kriegsherrenberuf, „wirst du von Liebe und Zorn gepeitscht. Armes Herz, schöpfe Atem in einer kurzen Ruhepause.“

Die gibts natürlich nicht. Wir sind schließlich in einer Barockoper. In der sind Atemschöpfen, Ruhepausen nicht vorgesehen. Barockopern sind Veranstaltungen für Höhepunktler des Herzens. Und Antonio Caldara, dessen „Ifigenia in Aulide“ die Innsbrucker Tage der Alten Musik, eine der internationalen Zentralen der Barockopernarchäologie, nach gut dreihundert Jahren des Atemschöpfens im Wiener Musikarchiv jetzt ausgegraben haben, war ein Meister der kurzen, aber giftigen emotionalen Anstiege, aller nur denkbaren musikalischen Gefühlskurven.

Die „Ifigenia in Aulide“ hatte der 1770 in Venedig geborene Caldara, Vizekapellmeister, Generalbasslehrer und erklärter Lieblingskomponist des Habsburger-Kaisers Karl VI., im November des Jahre 1718 zur Uraufführung am hochbarocken Leopoldinischen Hoftheater gebracht. Als siebte Oper, seit er 1716 von Karl für nicht ganz wenig Geld aus Rom verpflichtet worden war. Am Ende, als Caldara, von dem schwindelerregende Opus-Zahlen kursieren, nach denen selbst der gern des Vielschreibertums geziehene Georg Philipp Telemann geradezu ein Faulpelz gewesen sein muss, nach zwanzig Jahren in Wien 1736 starb, hinterließ er um die achtzig Opern. Im Gegensatz zu seiner in Wien noch sehr gepflegten Kirchenmusik wurden sie allesamt vergessen. Anders allerdings als die wahrscheinlich vier Fünftel aller barocken Musik, die tatsächlich verschollen sind, ist Caldaras Werk in Wiener Archiven noch weitgehend vorhanden.

Was Caldara der Hochachtung seines Dienstherrn zu verdanken hat. Für Karl, der unendliche Noten und Koloraturen nicht mochte, es liebte, wenn Musik schnell auf den Punkt kam, ohne es an Tiefe und Wucht fehlen zu lassen, war Caldara das ideale Sprachrohr, der ideale Lieferant repräsentativer Klangwelten. Caldara verfügte über sämtliche europäischen (was überwiegend meinte: habsburgischen) Tonfälle. Er war überaus geschmeidig, anpassungsfähig und karrierebewusst. Was durchaus peinliche Züge annehmen konnte. Der Innsbrucker „Ifigenia“ wird eine trompetenselige Huldigung Caldaras an Karl vorausgeschickt. Einem Herrscher, so singt es im Vestalinnenkleid Marie Lys, die später die opferbereite Ifigenia, die gute Tochter, sein wird, für den die Himmel kämpfen und der – wie sein später, aber durchaus proletarischerer amerikanischer Bruder im imperialen Geiste – sein globales Reich neuen goldenen Zeiten entgegenführen wird.

Von weitergehenden Aktualisierungen bleibt der Klassiker allerdings im Verlauf der kommenden fast vier Stunden verschont. Die Innsbrucker Bühnenmaschinerie bleibt ausgeschaltet. Dezent an eine Barock-Variante von Monty Pythons fliegendem Antikenzirkus gemahnend, werden hübsch bemalte Veduten von Menschenhand vor einem Hintergrund vorbeigezogen, der von alpinen Lüftelmalern hätte nicht schöner und kunstvoll naiver gezeichnet werden können. Schiffe ziehen her, Hirsche hüpfen, bunte Vögelchen fliegen herum.

Misogynste Arie der Geschichte

Das katalanische Figurentheaterduo Per Poc, dem das Inszenieren übertragen wurde, lässt die Frauen als lebensgroße Double-Puppen auftreten, sich hinter ihnen verstecken, mit ihnen spielen, ihre innere Zerrissenheit in ihnen spiegeln. Die Herren tragen Helme und reden mit ihnen, wenn sie aus ihrer Rolle treten wollen. Es geht natürlich – vor allem in den Begleittexten – um weibliche Selbstaufgabe und männliches Machtgehabe, Feminismus findet statt, und Ulisse, der mal ein richtig fieser Möpp sein darf, singt die misogynste Arie der Musikgeschichte. Das macht aber alles nichts. Weil in der Innsbrucker „Ifigenia“ alles so schön bunt ist.

Es wird erstaunlich viel erzählt. Es gibt – für alle noch von der aulischen Iphigenie auf dem Gymnasium gequälten Boomer – erstaunlich viel Herzeleid. Was daran liegt, dass Apostolo Zeno, der seinerzeit von Karl für sein musikdramatisches Allstarteam frisch verpflichtete Dramatiker, Historiker und Numismatiker, für sein Libretto die eher oratorisch angelegte euripideische Iphigenie, die erst sehr spät und eigentlich erst durch Caldara ihre Opernkarriere begann, mit ein paar amourösen Verwicklungen verziert hat. Damit Caldara die Winde ordentlich wehen lassen und den Zuhörern Liebe und Zorn um die Ohren peitschen konnte.

Was er in seinen minimalistisch kurzen Arien (keine endlosen Noten!) ausgiebig und immer explosionsartig auf den Punkt tut. Irgendwann gibt man das Zählen der virtuosen Zweieinhalbminüter auf, ergibt sich der Schönheit des Moments. Erwischt sich allerdings gelegentlich bei der Frage, ob man das, mit dem Caldara einem gerade mit einiger Macht emotional an Wäsche und Herz will, nicht vor ziemlich genau drei Stunden oder überhaupt ganz woanders exakt so gehört hat.

Was dem Ensemble nicht vorzuwerfen ist. Das ist nicht nur noch erstaunlich jung, es müht sich auch koloraturensicher mit heftigem Erfolg, das Innere ihrer erstaunlich vielschichtigen Figuren ungefähr so bunt auszumalen, wie es Alexandra Semenova in ihren Bühnenbildern mit den aulischen Hintergründen tut. Dass Carlo Vistolis balsamisch-stämmiger Achill, Laurence Kirbys giftig-geschmeidiger Ulisse, Neima Fischers bezaubernde Elisena, Filippo Mineccias an Wind- und Liebesflaute verzweifelter Teucro und Shakèd Bars rebellische Herrschergattin Clitennestra von Per Poc stets genau dann in die Kulissen geschickt werden, wenn sie ihr Arienwerk getan haben und ihnen der Applaus vom am Ende etwas angemüdeten Publikum nur noch als Rausschmeißer hinterher schallt, haben sie so nicht verdient.

Ottavio Dantone, seit einem Jahr Innsbrucker Alte-Musik-Chef und Chef-Archäologe, trägt alles durch die teilweise endlosen, aber kaum kürzbaren Rezitative, lädt das Ensemble immer wieder zum erstaunlichen Duettieren mit den Solisten seiner Accademia bizzantina im Graben, bringt die „Ifigenia“ durch alle Wüsteneien des Wohlklangs. Zu dauerhaftem Weiterleben allerdings wahrscheinlich nicht.

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