Die Klage, Literatur, insbesondere der Roman, werde immer weniger relevant, Buchverkäufe gingen zurück und Leser wüchsen nicht mehr nach, gehört seit Jahren zum etablierten Narrativ des deutschen Literaturbetriebs. Dass in Amerika über die schwindende Relevanz von Literatur in der Gesellschaft diskutiert wird, kommt seltener vor, vermutlich schon deshalb, weil dort der Glaube daran, Schriftsteller seien so etwas wie das Gewissen einer Gesellschaft, weniger verbreitet ist. Das ändert sich nun.
Die Vereinigten Staaten von Amerika, weltweit der umsatzstärkste Buchmarkt, brächten „keine relevanten Schriftsteller“ mehr hervor, schrieb vor ein paar Wochen ein Kolumnist der „New York Times“, David Brooks. Bis in die Achtzigerjahre hinein seien so komplexe Romane wie die von Philip Roth, Saul Bellow, Toni Morrison oder John Updike „kulturelle Ereignisse“ gewesen, über die lange debattiert worden sei.
Damit sei es heute endgültig vorbei: Literarische Fiktion, also „echte Literatur“, sei in der Gunst der Leser ersetzt durch Fantasy-Romane oder die Superbestseller einer Coleen Hoover; keine Hochkultur, sondern eher generische Massenware – 1969 habe sich dagegen ein so vielschichtiger Roman wie Philip Roths „Portnoys Beschwerden“ noch eine halbe Million mal verkaufen können.
Umfragen des National Endowment for the Arts zufolge gehe die Zahl derjenigen, die angeben, Romane zu lesen, seit Beginn der Achtzigerjahre stetig zurück. Und seit 2001 sei – mit Ausnahme von Jonathan Franzens „Freiheit“ – kein echtes literarisches Werk mehr auf der jährlichen Top-10-Bestsellerliste von „Publishers Weekly“ vertreten gewesen. Er habe kein Problem mit Populärliteratur, aber wo sind die F. Scott Fitzgeralds, William Faulkners, George Eliots, Jane Austens oder David Foster Wallaces von heute, fragte Brooks.
Brooks reiht sich damit ein in eine Debatte, die in Amerika seit Monaten in verschiedenen Medien und Plattformen geführt wird. Zuletzt machte Jacob Savage mit einem Onlineartikel von sich reden, der das „Verschwinden des weißen männlichen Schriftstellers“ beklagte: Es gäbe kaum noch Romane, deren Charaktere weiße Männer seien, auch die Anzahl junger weißer männlicher Schriftsteller, die mit Preisen und Förderstipendien ausgezeichnet würden, sei in der Generation der Millennials rückläufig, rechnete Savage vor.
Im Laufe der 2010er-Jahre sei der Literaturbetrieb für junge weiße Männer immer weniger empfänglich gewesen; kein weißer männlicher Amerikaner, der nach 1984 geboren wurde, habe ein literarisches Werk im „New Yorker“ veröffentlicht, obwohl dort Werke von rund 30 Millennials publiziert wurden.
Weniger „traditionelle Rezensionen“
Die Art Literatur, die ein Updike oder DeLillo geschrieben habe, sei heute für weiße Männer schwieriger zu schreiben, so zitiert Savage einen New Yorker Literaturagenten, allein schon, weil es kaum Lektoren gebe, die an Geschichten über die Erfahrungen weißer Männer aus der Mittelschicht interessiert seien; die Zeit der „litbros“, die über Jahrzehnte die Literaturwelt bestimmt hätten, sei vorbei. Universell gültige Romane würden in der Generation viel mehr von Frauen geschrieben, Sally Rooney etwa – mit der logischen Konsequenz, dass sich viele wieder nach dem „hypermaskulinen“ Schriftsteller vom Schlag eines Roth oder Updike sehnten. Im Frühling gab der britische Autor Jude Cook bekannt, er gründe einen Verlag, der sich auf männliche Nachwuchsschriftsteller konzentriere, Männer würden im gegenwärtigen Klima übersehen.
Die „New York Times“ geht nun einen Schritt weiter. Das Problem des amerikanischen Romans heute sei nicht etwa, schreibt David Brooks, dass die Literatur von Minderheiten den „ganz normalen“ weißen amerikanischen Mann vom Buchmarkt verdrängt hätte, sondern ein viel tiefgreifenderes: Es gäbe einfach keine Generation großer Schriftsteller mehr, allenfalls vereinzelt herausragende.
In Amerika läse man durchaus noch anspruchsvolle Belletristik – aber eben weniger anspruchsvolle zeitgenössische Belletristik; Klassiker wie „Stolz und Vorurteil“ verkauften sich weiterhin gut. Nur der Gegenwartsroman täte sich schwer, und das in Zeiten, die doch gerade besonders viele und komplexe literarische Reflexionen nötig hätten.
Auch wenn man Brooks’ Begründungen für die Krise des zeitgenössischen amerikanischen Romans für etwas zu simpel halten mag – das Internet hat die Welt, in der Literatur und ihre Kritik mit Kritikern wie Susan Sontag oder Lionel Trilling noch etwas bedeutete, zerstört – sein Befund, dass die Literatur an gesellschaftlicher Relevanz eingebüßt hat, scheint richtig.
Kurz nachdem Brooks’ Essay veröffentlicht worden war, gab die „New York Times“ bekannt, man werde einigen Kritikern ihres Kulturteils andere Positionen geben und neue Kollegen einstellen, die weniger „traditionelle Rezensionen“ und viel mehr „neue Erzählformate“ bedienen könnten – manche Stimmen vermuten, dieser Perspektivwechsel stünde auch der Literaturbeilage bevor.
Welche Relevanz die amerikanische Literatur noch hat, lässt sich wohl im Herbst an einem der letzten noch lebenden der Generation großer Schriftsteller ablesen: Anfang Oktober erscheint mit „Shadow Ticket“ ein neuer Roman von Thomas Pynchon, dem großen Mysterium der Literatur.
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