Wer wäre ich heute, wenn ich statt des BWL-Studiums die Kunsthochschule gewählt hätte? Wenn ich nicht in die Großstadt gezogen wäre? Wenn ich noch heute mit meiner Jugendliebe zusammen wäre? In Ihrem Debütroman stellt die Autorin und Podcasterin Anne Sauer jene Frage, die jede und jeden schon einmal umgetrieben haben dürfte: Was wäre wenn? Es geht um Toni, eine Frau Anfang 30, die mit ihrem Freund Jakob in einer kleinen, besonders hellhörigen Mietswohnung in der Großstadt wohnt. Die beiden wünschen sich ein Kind - zumindest solange, bis Toni sich fragt, ob es wirklich ihr Wunsch ist, dem sie seit Monaten hinterherjagt. Eines Tages wacht sie in einem großen, beige eingerichteten Haus in ihrem Heimatdorf auf. Sie ist offenbar mit ihrer Jugendliebe Adam verheiratet - und auf ihrer Brust liegt ihr neugeborenes Baby Hanna. Anne Sauer schafft eine Parallelwelt: ein Leben mit, eins ohne Kinder. Sie schreibt darüber, wie schmerzlich, beklemmend und schön das Mutterwerden sein kann. Gleichzeitig. Warum diese Ambivalenz viel öfter Thema sein sollte, erzählt sie im Gespräch mit ntv.de.
ntv.de: Frau Sauer, einige beschreiben Ihren Roman als Gedankenexperiment, andere als Psychothriller und wieder andere nennen ihn einen "Quasi-Ratgeber" für Mutterschaft. Welche Art von Buch ist "Im Leben nebenan"?
Anne Sauer: Es ist ein philosophisches, emotionales Gedankenexperiment, das viele Fragen aufwirft, ohne Antworten vorzuschreiben. Oder anders: Toni wird in eine Parallelwelt geworfen, ohne zu wissen, wie sie in dieses Leben, gekommen ist. Es ist eine Welt, die man nicht versteht. Die Figuren in dieser Welt kennen wir jedoch alle beziehungsweise wir glauben, sie zu kennen. Da ist Toni selbst, eine Anfang 30-jährige Frau, die sich fragt, ob sie Kinder möchte oder nicht. Und da ist ihr Umfeld – ihr Freund, die Schwiegermutter, der Vater, Freundinnen, Babygruppen. Ich wollte den Leserinnen und Lesern Figuren näherbringen, die wir alle kennen, die uns ganz nahestehen oder zumindest um uns herum leben, aber von denen wir oft nicht wissen, was in ihnen vorgeht. Es geht darum, die Wände zwischen Eltern und Kinderlosen ein bisschen transparenter zu machen.
Über Mutterschaft und Kinderwunsch gab es in jüngster Zeit gleich mehrere Romane, ich denke an "(K)eine Mutter" oder "Die Tochter". Warum haben Sie dieses Thema für Ihren Debütroman gewählt?
Es gab diesen Moment, in dem ich mich fragte: Was wäre, wenn ich jetzt ein Kind hätte? Wie sähe mein Leben aus und was wäre ich für eine Frau? Diese Frage hat mich nicht mehr losgelassen und ich habe gemerkt, dass die Geschichte eigentlich schon über Jahre in mir und um mich herum gewachsen ist. Natürlich habe ich schon viel über Mutterschaft und auch zum Thema Lebensentscheidung gelesen, aber mir fehlte immer eine Perspektive: die von Toni. Die Perspektive einer Frau, die sich nicht sicher ist und die anfängt zu hinterfragen, woher ihr vermeintlicher Kinderwunsch kommt, war für mich so stark, dass ich damit beginnen wollte.
Während Toni nach der Uni in die Großstadt gezogen ist, ist Antonia in ihrem Heimatdorf und bei ihrer Jugendliebe geblieben. Toni und Antonia sind ein- und dieselbe Frau, sie leben in gleichwertigen Parallelwelten. Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied: Antonia kann sich an ihr Leben in der Großstadt erinnern. Toni hingegen hat keine Ahnung von ihrem Parallelleben. Warum?
Ich wollte, dass Antonia - und damit auch die Leserinnen und Leser - ganz deutlich spüren, welchen Verlust sie erleidet. Sie weiß genau, dass es noch einen anderen Weg gegeben hätte, sie kann sich schließlich daran erinnern. Allerdings kennt sie nur die Vergangenheit dieses Parallellebens. Sie weiß nicht, wie es dort weitergegangen wäre, in der Großstadt mit Jakob und ihrem Kinderwunsch. Das ist das Tragische und gleichzeitig meine Antwort auf die Frage "Was wäre wenn?": Eine richtige Antwort, die eine richtige Version des Lebens gibt es nicht. Ich will deutlich machen, dass wir eben nicht wissen können, wie unser Leben ausgesehen hätte, hätten wir die ein oder andere Abzweigung genommen.
Allerdings klingt die Abzweigung, die Antonia nahm, zumindest zu Beginn besonders beklemmend. Da ist dieses ihr völlig fremde Baby, eine Großmutter, die ihr das Kind gegen ihren Willen "einfach wieder anlegt" und ein Ehemann, der ihre Überforderung und Ausweglosigkeit kaum verstehen kann. Antonia denkt mehrmals an Flucht, es drängt sich der Begriff "Gefängnis" auf. Warum erzählen Sie das Thema Mutterschaft aus dieser Perspektive?
Weil das eine Perspektive ist, die existiert, aber in vielen Fällen immer noch verschwiegen wird. Ich habe in Gesprächen mit Freundinnen oder anderen Eltern gemerkt, dass es oft diesen Punkt gibt, an dem sie erzählen, dass es ihnen schlecht geht, zum Beispiel nach der Geburt. Nicht selten folgt dann aber direkt der Satz: "Aber uns geht es gut, es ist alles in Ordnung" oder "Da müssen wir jetzt nicht drüber reden". Mich hat es erschrocken, wie viele Facetten von meinen Freundinnen ich plötzlich nicht mehr kannte, weil sie mir verborgen blieben. Weil diese Gefühle, diese Gedanken, "Was passiert da eigentlich, wenn ein Baby in mein Leben kommt", im Verborgenen ausgelebt werden. Die Überforderung vieler Mütter wird oft von Zuckrigkeit und dem Glück, das das Baby mit Sicherheit bringt, überdeckt. Es muss doch aber okay sein, eine überforderte Mutter zu sein, die ihr Kind trotzdem liebt.
Es scheint, als würde Antonia ständig zwischen diesen beiden Haltungen – Überforderung und Liebe – wechseln. Es gibt Momente, in denen sie überlegt, ihr Baby einfach an einer Straßenecke liegenzulassen. Und dann gibt es jene, in denen sie Hanna beim Schlafen überwacht, um sicherzustellen, dass es ihr gut geht.
Es ging mir vor allem darum, die Ambivalenz der Mutterschaft, die es ja vor allem in den ersten Monaten durchaus gibt, abzubilden. Bei Antonia kommt noch hinzu, dass sie einfach in die Situation hineingeworfen wird. Sie hat sich definitiv nicht ausgesucht, Mutter zu sein. Entsprechend hat sie auch nicht diesen vermeintlich angeborenen "Mutterinstinkt". Auch dem wollte ich nachgehen: Woher kommt das Gefühl, sich für ein Kind verantwortlich zu fühlen? Wie entsteht Liebe zu einem Kind? Es gibt sicherlich Elemente im Buch, die sich nach Gefängnis anfühlen. Nach und nach kommt allerdings Licht in Antonias Zelle, um dieses Bild weiterzuführen.
In Tonis Leben hingegen spielt die Frage, ob sie überhaupt Kinder möchte, eine große Rolle. Ihr Freund, Freundinnen, Frauenärzte und Kollegen lassen sie das auch kaum vergessen. Diese Situation, die aufgedrängte Frage nach Kindern, dürfte vielen Frauen Ende 20, Anfang 30 bekannt vorkommen. Wo stehen wir in Bezug auf Mutterschaft und Selbstbestimmtheit?
Ich denke, wir sind deutlich weiter als noch vor zehn Jahren. Ich sehe viele junge Frauen, die deutlich und bestimmt sagen können, sie möchten Kinder oder eben auch nicht. Gleichzeitig gibt es hinsichtlich der Selbstbestimmtheit der Frau immer noch viel Widerstand, vor allem auf politischer und gesellschaftspolitischer Ebene. Es gibt auch 2025 noch Stimmen, vor allem aus der konservativen und traditionsgebundenen Ecke, die die Selbstbestimmung der Frau über ihren Körper für nichtig erklären wollen. Die Entscheidungsfreiheit der Frau muss noch immer verteidigt werden. Und damit meine ich eben nicht, dass sich jede Frau entschieden haben muss – für oder gegen Kinder. Darum ging es mir in meinem Roman gerade nicht.
Inwiefern?
Ich wollte bewusst keinen Roman schreiben, in dem es zwei Fronten gibt. Zwischen dem Leben von Toni ohne Kinder in der Großstadt und als die Mutter Antonia auf dem Dorf gibt es kein Besser und Schlechter. Im Gegenteil: Auf beiden Seiten gibt es Schmerzliches, vielleicht Schlimmes, aber auch ganz Schönes. Das wollte ich die Leserin und den Leser spüren lassen. Es geht darum, die Entscheidung für und gegen Kinder der jeweils anderen Seite verständlicher zu machen und so zur Empathie füreinander beizutragen.
Bei vielen Leserinnen und Lesern hallt Ihr Roman noch lange nach. Auf Instagram schrieb jemand zu seiner Begeisterung: "Ich brauche Zeit, um über dieses Buch nachzudenken." Woher kommt die Wucht, mit denen Ihre Geschichte vor allem jüngere Menschen trifft?
Das ist in erster Linie das schönste Kompliment. Aber über diese Frage denke ich auch schon seit Wochen nach. Ich denke, dass das Buch viele wahnsinnig existenzielle Fragen aufwirft, die wir oft nicht laut stellen. Ich glaube, dass viele von uns, ähnlich wie Toni, auf einem Weg unterwegs sind, den wir für richtig halten, ohne nach rechts und links zu schauen. Wir haben vielleicht Angst, dass sich ein neuer Pfad öffnet und was verändert. Das passiert dann eher zwangsläufig, wenn uns mal ein Pfad wegbricht. Ich glaube, die Wucht kommt daher, dass jeder diese Fragen kennt, sich aber höchstens allein im Stillen mit ihnen beschäftigt. Ich würde mir wünschen, dass dies nun auch im Lauten, im Gespräch passiert.
Wir wollen selbstverständlich nicht spoilern, aber das Ende Ihres Romans hat viele Leserinnen und Leser aufgewühlt. Würden Sie sagen, es gibt ein Happy End?
(Lacht) Ich finde, es gibt eine Art Happy End in meinem Roman. Viel stärker würde ich aber darauf pochen, dass es ein Anfang ist.
Mit Anne Sauer sprach Sarah Platz
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke