Eine Vielzahl an Kindern kauert auf dem von einer transparenten Schutzschicht bedeckten Marmorboden und malt, was das Zeug hält. Manche verewigen sich mit ihrem Namen, der ein oder andere Kraft- oder Fäkalausdruck ist zu sehen; Herzchen und die dieser Tage unvermeidlichen politischen Parolen sind es ebenfalls. Irgendjemand hat „Die Ausstellung ist toll“ vermerkt. Wer noch nicht schreiben kann, schmiert Balken oder Knäuel. Regeln gibt es keine; auch die Hocker und die Rückseite der Exponate, die hier stehen, werden als Leinwand verwendet.
Das performative Großwerk eröffnet die Ausstellung „Für Kinder: Kunstgeschichten seit 1968“ und trägt den Titel „Mega Please Draw Freely“. Es stammt von Ei Arakawa-Nash und ist das Reenactment eines Werks der japanischen Avantgarde-Gruppe Gutai aus dem Jahr 1956. Die Aneignung eines Museumsraums kennt man, zuletzt war sie prominent im Berliner Gropiusbau zu sehen. In der Yoko-Ono-Ausstellung „Music of the Mind“ forderte die Installation „Add Colour (Refugee Boat)“ die Besucher zur Partizipation auf.
Doch wo diese in einem politischen Hallraum schwebte und auch die Farbe vorgegeben war – man kritzelte in Blau, der Farbe des Meeres –, herrscht hier, in der Haupthalle des Hauses der Kunst in München, die blanke Anarchie. Wer immer da malt, malt, was er möchte. Und: Wer immer hier malt, wird zum Teil des Kunstwerks, denn die Erwachsenen betrachten ihre Sprösslinge in ihrem Tun, schießen Handyfotos, drehen Videos.
Die Ausstellung folgt einer künstlerischen Erkenntnis, die Ende der 1960er-Jahre ihren Anfang nahm: Kindheit wurde von einer neuen Generation Kreativer nicht länger als sentimentaler Rückzugsort begriffen, sondern als eigenständige Realität mit eigenen Bedürfnissen und Perspektiven. Seither haben Künstler weltweit versucht, neue Formen der Ansprache zu formulieren: Arbeiten, die nicht erklären, sondern einladen; die nicht vorschreiben, sondern herausfordern.
Diese Spur zeichnet die Ausstellung über die Dekaden nach. Bei aller Vielfalt, die sie anklingen lässt, haben die Werke eines gemeinsam: Pädagogische Einhegungen oder erhobene Zeigefinger sucht man vergebens – und das ist wohltuend. Die Arbeiten begegnen den Kindern auf Augenhöhe und sind oft auch für diejenigen Raum für Auseinandersetzung, die den jeweiligen Kontext noch nicht erfassen können.
So bringt der indonesische Künstler Agus Nur Amal PMTOH, bekannt für seine performativen Erzählformate, mit „Goodness and Disaster“ eine interaktive Installation in die Ausstellung, die sich mit Naturkatastrophen und gesellschaftlicher Resilienz auseinandersetzt. Sie besteht aus mehreren knallbunten Stationen, darunter eine Welle, die vollständig mit Spielzeug bedeckt ist – eine Referenz an den Tsunami von 2004 in seiner Heimat Aceh und die anschließende Spendenbereitschaft. Kinder und Erwachsene bewegen sich durch das Ensemble, greifen ein, verändern es.
Interessant ist auch Basim Magdys Installation „PINGPINPOOLPONG, or How I Learned to Laugh at Failure“. Drei mit Hindernissen aus anderen Disziplinen wie Flipper oder Billard versehene Tischtennisplatten verweigern das gewohnte Spiel. Wer zu den bereitliegenden Schlägern greift, wird herausgefordert, neue Strategien zu entwickeln und den Sinn des Regelwerks zu hinterfragen. Auch an anderen Stationen wird gemalt, gehört, gekrochen, versteckt, gekurbelt, mit Klötzchen gespielt, getatscht, gerannt und – nicht zuletzt – erfreut geschrien.
Wo derlei Lebhaftigkeit im klassischen Museumsbetrieb anstrengend sein kann, schafft sie hier ein beglückendes Grundrauschen. Sie gibt der Ausstellung so etwas wie einen Soundtrack, auf den sich erwachsene Besucher erst einmal einstellen müssen. Dann aber lohnt die Perspektivverschiebung. Denn – so abgedroschen es klingen mag – ein wenig sollte man in dieser Ausstellung schon zum Kind werden; die völlig teilnahmslose Betrachtung der Exponate macht keinen Spaß.
Wobei: An manchen Stellen kommen auch jene auf ihre Kosten, die nur schauen wollen. Etwa in der Präsentation zur Münchener Gruppe KEKS, die Ende der 1960er-Jahre begann, das Fach Kunstpädagogik von Grund auf neu zu denken. Das Akronym stand für „Kunst, Erziehung, Kybernetik, Soziologie“, man experimentierte im Stadtraum, mit Happenings, offenen Lernsituationen und künstlerischen Prozessen. Ihre Arbeiten markieren den lokalhistorischen Ausgangspunkt der Ausstellung.
Gleichzeitig geben sie Einblick in eine Zeit, in der die meisten unter Kunst wohl etwas ganz anderes verstanden. Von der Ratlosigkeit der Öffentlichkeit zeugen Zeitungsausschnitte zu einer Aktion in einer Abbruchvilla in Bogenhausen 1969, die zum Atelier für Kinder wurde. „Das ist die schmierigste Villa von München“, heißt es da, weiter: „Hemmungslos ruinierten Kinder alle Zimmer – und die Erwachsenen sind davon hell begeistert.“
Die textilen Schutzumhänge von Rivane Neuenschwander zeigen eine andere Form der Zusammenarbeit zwischen Alt und Jung. Die Brasilianerin stellte Kindern die Frage nach ihren größten Ängsten – und bekam Antworten, die mal kindlich konkret, mal abstrakt ausfielen. Erster Schultag, Karies, Denguefieber-Mücken und Ratten, aber auch der Weltuntergang oder der Tod finden sich auf der Liste. Gemeinsam mit Designern übersetzte Neuenschwander diese in textile Umhänge.
Die Ausstellung zeigt 26 Exemplare aus verschiedenen Ländern – fünf davon sind neue Arbeiten, die im Rahmen eines Workshops mit Münchener Schulkindern entstanden. Im Unterschied zu einigen anderen Verkleidungen, etwa den Monstern aus der raumgreifenden Installation von Eva Koťátková, sind die Umhänge klassische Ausstellungsstücke, die nicht zum Spielen gedacht sind. Nur im Rahmen von Führungen dürfen Kinder sie überstreifen – und so selbst zu Superhelden werden.
„Für Kinder – Kunstgeschichten seit 1968“, bis 1. Februar 2026, Haus der Kunst, München
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