Im Jahr 2022 war noch alles klar. Als Wladimir Putin seinen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine startete, gab es auch in der Klassikwelt eine unmittelbare Welle des Mitgefühls. Konzerthallen und Opernhäuser beeilten sich, blaugelbe Flagge zu zeigen, ihre Gebäude in entsprechenden Farben anzustrahlen. Man gab Solidaritätskonzerte, kümmerte sich um ukrainische Künstler. Putin-Unterstützer wie der Dirigent Valery Gergiev verloren sofort ihre West-Jobs, unreflektierte Sympathisanten – der russische, visabequem in Wien lebende Sopranweltstar Anna Netrebko an der Spitze – vielfach Engagements.
Von den damaligen Aktionen ist nicht mehr sehr viel geblieben. Man ist nach über drei Jahren Krieg längst zum Tagesgeschäft zurückgekehrt. Gergiev ist zwar immer noch ein Paria im Westen, aber die Netrebko singt wieder, nicht in München, Salzburg und New York, aber bald auch neuerlich am Royal Opera House Covent Garden in London. Da wurde ausgerechnet der neue Chefdirigent und Opernquereinsteiger Jakub Hrůša vorgeschickt, um deren Wiedereinladung zu rechtfertigen, noch dazu für eine „Tosca“-Neuinszenierung zum Spielzeitbeginn. Die schien vielen überflüssig, die letzte Produktion des Puccini-Reißers ist noch nicht so lange her, außerdem muss das Haus mit den hohen Preisen sparen. In England ist die staatliche Kulturförderung nicht sonderlich hoch, der halbstaatliche Arts Council hat zusätzliche Kürzungen vorangetrieben.
Um diese neue „Tosca“ gibt es aber jetzt ganz andere Schlagzeilen. Das Opernhaus hat nämlich gerade verkündet, die natürlich auch aus Kostengründen als Koproduktion geplante Premiere nun nicht, wie angekündigt, am Ende der Spielzeit an die Israeli Opera in Tel Aviv weiterzuschicken. 182 Mitarbeiter hatten zuvor einen offenen Brief unterzeichnet (nur 40 freilich mit Klarnamen), in dem sie die Haltung der Institution zum Krieg in Gaza kritisierten.
Dem wiederum war kurz vor Spielzeitende ein in Klassikkreisen bisher unerhörter Vorgang vorausgegangen: Ein Freelance-Tänzerstatist hatte dort am Ende einer Repertoirevorstellung von Verdis „Troubadour“ beim Verbeugen eine palästinensische Flagge vor seinen Körper gehalten. Der Mitarbeiterbrief nennt das einen „Akt des Mutes und der moralischen Klarheit“. Auf einem in sozialen Medien geteilten Handy-Video ist ein Mitarbeiter zu sehen, der dem Tänzer anschließend vergeblich die Flagge zu entwinden versucht. Bei ihm soll es sich um den künstlerischen Leiter Oliver Mears handeln, der auch bei der neuen „Tosca“ Regie führen wird. Nach dem Bühnenvorfall scheint es nun hinter den Kulissen des Royal Opera House zu kochen.
Offenbar um die Belegschaft zu befriedigen, reagierte die Leitung jetzt mit der Absage nach Tel Aviv, wo übrigens gerade eine ebenfalls dem Royal Opera House gehörende „Turandot“ gespielt wurde. Begründet wurde das allerdings mit einem Verweis auf „die sich verschärfende humanitäre Krise in der Region und die damit verbundenen Risiken für die Sicherheit unserer Ensemblemitglieder“.
Aus England wäre zur „Tosca“-Einstudierung im nächsten Sommer (!) wohl höchstens Mears oder ein Regieassistent nach Tel Aviv gereist. Hier wurde also unter dubiosen Gründen gecancelt. Alex Beard, der Geschäftsführer des Royal Opera House, gab an, seine Mitarbeiter hätten sich beklagt, die Israeli Opera (die nur wenige öffentliche Subventionen erhält) sei eine staatliche Einrichtung, die zudem Soldaten kostenlose Tickets zur Verfügung stellt. Das wolle man nicht unterstützen.
Israels Kultur ist nicht gleichgeschaltet
Nun wird das Theater aber, anders als russische Opernhäuser, Puccinis in Rom des 18. Jahrhunderts angesiedeltes Quälodram kaum für Anti-Gaza-Propaganda einsetzen können und wollen. Denn Israel ist eine Demokratie, hier ist der Kunst- und Kulturbetrieb, in dem es sogar jüdische Anhänger der israelkritischen BDS-Bewegung gibt, nicht gleichgeschaltet, sondern frei, wenngleich das Kulturministerium in der von Rechts dominierten Netanjahu-Regierung eine bedenkliche Entwicklung genommen hat. Aber auch genau dagegen demonstrieren in Israel dieser Tage Zehntausende.
Die Mitarbeiter hatten in ihrem offenen Brief freilich auch das Eingreifen Oliver Mears‘ gegenüber dem unbotmäßigen Tänzer kritisiert, dieser wiederum hat öffentlich verbreitet, er würde hier wohl kaum mehr engagiert werden. Wohl wahr. Wo kämen wir hin, wenn jeder auf der Bühne künftig beim Applaus seine Privatmeinungen kundtun möchte? Doch anstatt ein solches Verhalten auch öffentlich zu ahnden (es wurde lediglich als „unbefugte Tat“ und „völlig unangemessene Handlung“ bezeichnet), schweigt es die Leitung einer der bedeutendsten englischen Kultureinrichtungen tot, ergreift aber Maßnahmen gegen Israel.
Das Royal Opera House verliert Geld, und die Israeli Opera wird sich eine andere „Tosca“ auf dem üppigen Leihmarkt suchen. Da kann man sich in London zurücklehnen und sich sagen: „Es ist ein zentraler Bestandteil unserer Identität, dass wir die Meinungsvielfalt unter unseren Kollegen und unserem Publikum anerkennen und respektieren”. So jedenfalls Alex Beard. „Unsere Unterstützung für die Ukraine stand im Einklang mit dem damaligen globalen Konsens. Da die weltweite Geopolitik komplexer geworden ist, haben wir unsere Haltung geändert, um sicherzustellen, dass unsere Handlungen unseren Zielen und Werten entsprechen.“
Die britische Gruppe Artists for Palestine bezeichnete daraufhin die Absage der Israel-Kooperation als „Durchbruch für die institutionelle Verantwortung“ und lobte den offenen Brief als „ethischen Aufstand“.
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