Huichang ist ein Kreis in der Neun-Millionen-Metropole Ganzhou in der chinesischen Provinz Jiangxi. Dort fand am 24. Mai die jüngste und leider nun letzte Robert-Wilson-Premiere statt. Sie galt der „Hamletmaschine“ seines zeitweiligen Bühnenpartners Heiner Müller. Und sie war mit Schauspielstudenten besetzt, so wie schon 1986 bei der amerikanischen Premiere in New York und im gleichen Jahr bei der deutschen Erstaufführung in der Hamburger Kunsthalle (darunter die junge Annette Paulmann). Die Produktion, die Müller selbst für die beste seines ikonischen Werkes hielt, gab es dann noch 2017 in einer italienischen Version und nun also in einer chinesischen.
So schließt sich in einer finalen Variation der weltumspannende Wirkungskreis des kreativen Universalisten Robert Wilson, der am 31. Juli nach kurzer, schwerer Krankheit in seinem eigenen Water Mill Center im Bundesstaat New York gestorben ist. Er wurde 83 Jahre alt. Denn wohl kein Bühnen- und gleichzeitig bildender Künstler hat in den vergangenen 50 Jahren mit solch einer Ausstrahlung und Amplitude gewirkt wie dieser in seinen Jugendjahren sprachbehinderte Texaner. Er machte sich das Theater als Gegenentwurf zu eigen. Wilson schuf eine Wunderwelt aus Licht, Farbe, Stoff, Holz, Bewegung im Raum, als Selbsttherapie und Heilmittel; seine Kreativität erfasste auch Oper, das Musical, die Zeichnung, Installation, Video, Design, Ausstellungsgestaltung und Werbung. Schauspieler und Autor war er auch; vor allem aber immer der Meister seines der Wirklichkeit konsequent entrückten Universums.
Doch was Robert Wilson nicht war, was jetzt wieder viel zu oft geschrieben werden wird: ein Theaterzauberer oder Bühnenmagier. Denn die Welt des Robert Wilson, sie war zwar sehr oft eine zauberhafte, phantasmagorische, überraschende, aber sie war dabei immer total rational, durchdacht, wirkungsbewusst und illusionsfrei. Hier trickste, schummelte keiner, lenkte nicht im entscheidenden Verwandlungsmoment ab. Hier führte einer eine strikt zusammengesetzte, freilich sehr eigene, in ihren ersten Jahrzehnten aufregend originelle Welt der genau artikulierten Kunst und Künstlichkeit vor.
Eine Welt, die vorher in seinem Hirn wie auf seinem Skizzenblock festgelegt worden war. Die oft Jahre vorher und monatelang in baukastengleich zusammengestückelten Workshops Stück für Stück und Cue für Cue entwickelt und ausgetestet wurde. Oft mit Doubles und gern des Sommers auf seinem Kreativcampus Water Mill auf Long Island, wo Wilson seine sich regelmäßig erneuernde Familie aus Akteuren, Assistenten und Adoranten versammelte; was immer in einer glamourösen, der reichen New Yorker Avantgarde-Bubble elegant das Geld aus der Tasche ziehenden, spätsommerlichen Spendengala mündete. Und was heute, nachdem das legendäre Loft in Manhattan lange schon wegen der zu hohen Miete aufgegeben werden musste, sein hoffentlich bleibendes Vermächtnis als eine Agora der Künste bleiben wird. In der es allerdings, das muss heute schon gesagt werden, erotisch auch nicht immer astrein abging.
Kein Zauberer also, aber ein fulminanter Analytiker, ein Präzisionsfanatiker. Der zunächst in der Familiengarage und auf windigen Studentenbühnen sein Handwerk lernen, Fehler, die die Faszination des Vollkommenen störten, ausmerzen musste. Das brachte Robert „Bob“ Wilson, geboren am 4. Oktober 1941 in Waco, der zunächst Betriebswirtschaft und dann Architektur studierte, sich selbst bei. Aber mit wertvoller Hilfe, etwa von Sibyl Moholy-Nagy, der Witwe des Fotografen und Lichtkünstlers László Moholy-Nagy, dem Maler George McNeil, den Choreografen Merce Cunningham und George Balanchine – an dessen Grab er sich kürzlich noch mit einer Nussknacker-Puppe fotografieren ließ.
Schon vorher hatte Wilson mithilfe der Tänzerin Byrd Hoffman sein Stottern überwunden, arbeitete als schwuler, von seinem rassistischen Vater gehasster Außenseiter immer wieder mit behinderten Kindern, besonders dem anfangs 13-jährigen Autisten Christopher Knowles zusammen und gründete 1968 die Byrd Hoffman School of Byrds in New York; eine gleichnamige Stiftung hält seine künstlerischen Rechte. Ab 1966 arbeitete Wilson im Theater, berühmt wurde er 1970 mit der siebenstündigen Silent Opera „Deafman Glance“, die nach der New Yorker Uraufführung bereits in Nancy, Rom, Paris und Amsterdam gastierte.
1972 wurde im Iran das einwöchige Stück „Ka mountain and guardenia terrace“ gezeigt, 1973 „The Life and Times of Joseph Stalin“, ein Jahr später „A Letter for Queen Victoria“. 1976 folgte beim Festival d’Avignon als Meilenstein der Musikgeschichte das minimalistische Opernhappening „Einstein on the Beach“ mit Musik von Philip Glass, an dem neben Knowles auch – als seine Choreografin für viele Jahre – Lucinda Childs beteiligt war. Im selben Jahr hatte Wilson in New York seine erste Einzelausstellung.
Die Franzosen hatten „Nôtre Bob“ schnell zu einem dort geliebten Künstler gemacht. 1979 folgten die Deutschen, speziell Berlin, wo ihn ausgerechnet die literaturstrenge Schaubühne für sein Bildertheater angefragt hatte. Und im heute mythischen, in seiner Bilderflut noch nie gesehenen „Death, Destruction & Detroit“ spielten, damals noch Niemande, Otto Sander und Gerd Wameling; es gab die erste Theatertreffen-Einladung.
Robert Wilson kam immer wieder gerne, denn das deutsche Theatersubventionssystem konnte sich seine aufwendigen Spektakel sehr lange leisten – selbst groß und monströs zum Scheitern Verurteiltes, wie die Anfang der Achtziger nie zu Ende geführten, über ganz Europa verteilten „CIVIL warS“ oder das zu Berlins 750-Jahre-Jubiläum konzipierte, trotz der Beteiligung von Heiner Müller und David Byrne gecrashte Gilgamesch-Opus „The Forest“.
„Ich war gerne seine Farbe in einem überwältigenden Gemälde“
Aber auch Kleines und Zartes wie das 1982 an den Münchner Kammerspielen (wo er dreimal arbeitete) „Die goldenen Fenster“; aber mit großen Mimen wie Peter Lühr, Maria Niklisch, Edgar Selge, Gisela Stein oder Walter Schmidinger, die sich willig in sein Korsett genau auf Lichtstellungen wie Szenenwechsel austarierter, puppenhaft grotesker und eckiger Gesten pressen ließen – und dabei trotzdem in ihrer besonderen Aura ausgeleuchtet wurden. Wie dann später auch Jutta Lampe als Orlando in Berlin, Marianne Hoppe als König Lear in Frankfurt, am Berliner Ensemble Bernhard Minetti, Inge Keller, Stefan Kurt, Angela Winkler, Christopher Nell, in Paris immer wieder Isabelle Huppert, auch Marina Abramović oder Mikhail Baryshnikov; und schließlich in Düsseldorf, bei seinen letzten Arbeiten hierzulande, Christan Friedel und neuerlich Christopher Nell. Friedel rief Wilson jetzt nach: „Ich war gerne seine Farbe in einem überwältigenden Gemälde.“
1986 hatte Robert Wilson mit Glucks „Alcestis“ in Stuttgart seine erste Repertoireoper inszeniert. Am Ende erstreckte sich sein Schaffen von Monteverdi an der Mailänder Scala über Bach in Paris bis Wagners „Ring“ in Zürich, Moderne in Salzburg, gerne Diven-Selbstbespiegelung für Jessye Norman, Janáček in Prag, Verdi in Brüssel, Parma, Linz oder Warschau oder Pärt in Tallinn. Immer wieder kehrte er zu seinen Studentenarbeiten zurück, etwa in Berlin zu leichtgewichtigen Gertrude-Stein-Collagen (mit der jungen Fritzi Haberland).
Er zelebrierte aber auch Liszt in Singapur oder Weimar, La Fontaine an der Comédie Française oder Puschkin in Moskau. Er inszenierte „Hamlet“ mit sich selbst als packende One-Man-Show und Strindberg in Stockholm, Susan Sontag und Samuel Beckett. Öfter verlegte er sich, der die Stille so wichtig nahm, auf skurrile Kunstmusicals, angefangen mit dem unübertroffenen, vielfach nachgespielten „Black Rider“ nach Webers „Freischütz“ mit William-S.-Burroughs-Texten, Tom-Waits-Score und einer Traumrolle für Dominique Horwitz in Hamburg. Später komponierten für ihn neben Hans-Peter Kuhn, Lou Reed, Herbert Grönemeyer, Rufus Wainwright und CocoRosie.
Nichts lebte in diesen Stücken mehr, alles war garantiert keimfreie Großkünstlichkeit. Touristen konnten dieses possierlich quietschende und knarzende Design-Singspiele mit ihren augenaufreißenden Schauspielpuppen auch für die Bühnendependance von Madame Tussauds halten: Doktor Bobs Wachsfigurenkabinett mit lauter Theatertoten ohne Begräbnis.
Denn so um die Jahrtausendwende, da war Robert Wilson plötzlich sehr unmodern geworden. Man hatte sich sattgesehen, zu viele folgten als Imitatoren in seinen Spuren; manche freilich hatte sich auch über das Original hinausentwickelt. Er aber behübschte unverdrossen Dom Pérignon und veredelte Möbelmessen, in Salzburg schmückt noch heute ein Foyer eine Jessye-Marmorbank, Lady Gaga lächelt im Louvre von den Videoscreens. Man konnte Wilson für alles kaufen, er klonte seinen Stil für fast jeden.
Wilson hat eben immer schon groß und meist ziemlich perfekt gedacht. Doch nun lief er, der uns lange Jahrzehnte das Staunen über Licht, Farbe und Langsamkeit sowie die Liebe zum Minimalismus seiner abstrakten Musik-Theater-Welten gelehrt hatte, ziemlich leer. Er hätte in der Renaissance oder im Barock leben müssen. Dann hätte sich niemand über seine riesige Werkstatt gewundert, in der an mehreren Aufträgen gleichzeitig gearbeitet wird, in der man die verschiedensten Genres bedient, Gehilfen, Schüler, Vorzeichner, Arrangeure, Assistenten wuseln, aus einer Vielzahl von Vorlagen oft ähnliche Kompositionen entstehen, um schließlich vom Meister selbst mit ein paar charakteristischen Strichen an den besonders wichtigen Stellen in ein heiß begehrtes Original verwandelt zu werden.
Irgendwann, zwischen der Arbeit an der neuen Taschenkollektion für Louis Vuitton, einem Workshop für „Leonce und Lena“ am Berliner Ensemble, Proben für eine theatralische Stuhlinstallation zum 100. Geburtstag von Arne Jacobsen in Kopenhagen, Bühnenzeichnungen für „Die Versuchung des heiligen Antonius“ bei der Ruhr-Triennale, wurde Wilson-Wähnen nur noch gähnen machende Reißbrett-Wirklichkeit. Die Mittel waren alt geworden, der Zauber schien verbraucht, der vorgebliche Magier nackt. Der rastlose Robert Wilson bot kaum mehr Interpretation, nicht einmal spannende Bebilderung. Lustlos wurde abgeliefert.
Und immer mehr entfernte sich Wilson zudem aus den Zentren der Kunst, rutschte an die Peripherie, wo ihn irgendwelche Sponsoren noch finanzieren. Der Junge war alt geworden. Ein Dinosaurier zu Lebenszeiten. Dabei stets ein sehr besonderer Performer seiner Selbst, von seinen im schwarzen Armani-Anzug (für den Modeschöpfer hatte er längst schon eine weltweit tourende Ausstellungs-Hommage gestaltet) über die leise, doch prägnant-müde Stimme in tollen Interviews, bis zu seinen kostbaren Faxen mit den staksigen Versalien. „Tristan und Isolde“ wollte er 2026 noch inszenieren – in Ljubljana.
Das Geisterwesen als Fossil
2012 trat Robert Wilson selbst letztmalig in Berlin auf. Ein alter Herr, kalküberstäubt, saß er im Theatersaal der Berliner Akademie der Künste zwischen zerknülltem Zeitungspapier und beschriebenen Paravents vor einem weißen Tisch und fuhr mühsam und wie ein Blinder mit dem Finger über die Zeilen seines dicken, ebenfalls weißen Folianten. Die Stimme des Albino-Alten brach, er blickte durch seine Brillengläser ins Publikum: „I'm here and there is nothing to say.“
So beginnt „A Lecture on Nothing“ von 1959, einer der berühmtesten Texte von John Cage, ein durchaus komponierter und zeitlich eingeteilter, die Stille als Rhythmus, ja als Musik mitdenkender Bewusstseinsstrom über das Nichts, der sich trotzig in Paradoxien der Vergeblichkeit verliert. Der 70-jährige Robert Wilson exekutierte ihn als Denkmal seiner selbst und gleichzeitig als Hommage an Cage, den er selbst noch angebetet hat. Ein Nachtgespenst der Avantgarde.
War es Ironie oder Trauer, dass sich dieses Geisterwesen als Fossil ausstellte? Fast tonlos rezitierend, unendlich müde und hinfällig. Fluxus-Moderne von Gestern als übrig gebliebenes, hochberühmtes Artefakt. Als Theater-Guru hatte Wilson immer noch seine Gefolgschaft: Die Reihen waren mit Anhängern zwischen Studenten- und Rentenalter überfüllt. Doch was da auf der Bühne nur mühsam vorankam, schien wie hinter Glas entrückt. Man erlebte ein lebendes Theatermuseum – von Zeit zu Zeit sah man den nicht aufhören könnenden Alten gern. Nun aber ist Robert Wilson endgültig in den ewigen Bühnenhimmel entflogen.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke