Jennifer konnte sich nicht erinnern, wann sich das geändert hatte. Wann er sich geändert hatte. Wann er angefangen hatte, ein Spießer zu werden. War das eine Folge seiner Verbeamtung gewesen? Oder eine Reaktion auf ihren Erfolg? Auf eine Art wurde er so, als sie anfing, wirklich Geld zu verdienen.
War es so banal? Sie fand Geld absolut egal. Geld war eine Illusion, an die alle glaubten. Nicht mehr. Nicht weniger. Sie fragte sich, ob sie sich auch verändert hatte. Dann dachte sie, dass das alles dämlich sei. Jeder Mensch ist in jeder Sekunde, in jedem Augenblick ein neuer Mensch. Der Mensch ist immer der Gedanke, den er in einem Moment denkt, dachte sie. Und Gedanken verändern sich in dem Moment, in dem man sie denkt. Deswegen fand sie es dumm, die Veränderung eines Menschen überhaupt als Sensation zu sehen. Veränderung ist Normalität. Sie dachte noch einige Zeit wirres Zeug auf der Chaiselongue. Auf ihrem Handy liefen irgendwelche Songs, die sie nicht wahrnahm, weil sie ganz in ihrem Kopf war.
Dann kam Anne, ihre älteste Freundin, zum Antrittsbesuch. Sie kannten sich seit der fünften Klasse. Sie gingen damals auf das gleiche Gymnasium. Sie kamen beide aus Miesbach, einer Kleinstadt in Oberbayern. Sie hatten Tool und die Nine Inch Nails gehört und auf dem Dachboden von Annes Großvater, der einen Bauernhof hatte, geraucht. Während Jennifer schon immer ihr Leben lebte, jeden Morgen aufstand und das Leben als Fakt hinnahm, hatte Anne über alles nur Fragezeichen gesetzt. Sie war so irgendwie stehen geblieben. Wenn man in allem eine Frage sieht, gibt es nie eine Antwort.
Groß ist das ja hier bei dir. Und hell. Wahnsinn. Und was ist das denn? Ist das ein Stuhl oder Kunst?
Anne zeigte auf die Chaiselongue. Eames hatte sie schon mal gehört. Aber von Möbeln hatte sie keine Ahnung. Sie verdiente ganz okay, seit sie eine Stelle beim Finanzamt hatte, aber sie kaufte sich keine schönen Dinge. Seit sie zum ersten Mal Geld verdiente, lebte Anne nach dem genau gleichen Muster. Das ganze Jahr über ärmlich, um dann ihren ganzen Jahresurlaub auf einmal zu nehmen, in so ein Land wie Thailand, Peru oder Guatemala zu fahren und da mit dem Rucksack durchzulaufen und in stickigen Wanderunterkünften zu schlafen, um sich leicht berauscht von Höhenluft und frischen Früchten, die ihr irgendein Indio reichte, selbst zu finden.
Das hatte noch kein einziges Mal geklappt. Früher hatte sie sich von Job zu Job gehangelt, von Mann zu Mann. Immer wenn es für sie nicht passte, wie sie sagte, kündigte sie oder verließ den Mann, den sie kurz zuvor noch für die Liebe ihres Lebens gehalten hatte. Aber eigentlich hatte sie Angst, dass es noch etwas Besseres geben könnte. Sie wollte sich nicht festlegen. Aber irgendwann muss man sich ja festlegen. Sonst ist man sein ganzes Leben lang unglücklich.
Wie fühlst du dich, fragte Anne.
Ich weiß nicht. Ein bisschen angetrunken. Willst du auch einen Schluck?
Sie reichte Anne die Flasche.
Also mir geht es gut. Es ist richtig. Auch wenn es wehtut.
Sie zündete sich eine Zigarette an. Anne trank einen Schluck Champagner aus der Flasche. Sie saßen auf dem Boden vor der Chaiselongue. Rauch stieg in Spiralen nach oben.
Kadir will keine Kinder mehr, sagte Anne.
Er hat schon zwei, oder?
Dreizehn und siebzehn. Luke und Lea.
Ich will Kinder haben.
Seid ihr nicht irgendwie eine Familie? Sind das nicht auch deine Kinder?
Sie kuscheln mit mir. Luke sagt manchmal Mum zu mir.
Dann hast du doch Kinder.
Das ist nicht dasselbe.
Was ist es dann?
Ich möchte ein Kind haben. Mit einem Mann, den ich liebe. Gibst du mir auch eine?
Sie gab Anne eine Zigarette.
Seit ich denken kann, will ich Kinder haben. Ich will bedingungslos lieben. Ich will für jemanden da sein. Ich will jemanden beschützen. Aber kannst du das nicht auch mit ihm und seinen Kindern?
Und es sind ja nicht mehr nur seine, wenn sie dich schon Mum nennen.
Das macht ja nur Luke. Und nur manchmal.
Und die Große.
Die will jetzt ein Piercing.
So wie du. Die will das wegen dir. Sie will dir ähnlich sein. Sie findet dich toll. Du übernimmst Verantwortung.
Du bist für jemanden da. Ist das nicht eine Familie?
Ja, vielleicht.
Liebst du ihn?
Ja, natürlich. Es fühlt sich alles richtig an. Nur, dass ich eben ein eigenes Kind will. Und er nicht. Ich glaube, ich muss weg da.
Und dann? Hast du deswegen ein Kind?
Nein. Aber ich glaube, ich brauche einfach mehr Zeit für mich.
Der wievielte Mensch ist das, von dem du wegrennst, weil es nicht komplett das ist, was du haben willst? Der wievielte Mensch ist das, den du verlässt, weil du Zeit für dich brauchst?
Ich habe aufgehört zu zählen. Du hast Jan doch auch gerade verlassen.
Das ist das erste Mal in meinem Leben. Und es ist einfach so, dass er falsch für mich war. Aber Kadir ist richtig für dich. Das sagst du doch selber.
Ja.
Sie rauchten noch ein paar Zigaretten. Die Flasche war irgendwann leer.
Und jetzt musst du mir zeigen, wie man auf diesem Ding da sitzt.
Jennifer legte sich auf La Chaise. Ihr Körper wurde zu einer Verlängerung der Vorstellung des Ehepaar Eames. Sie lag seitlich in der Mitte des Raumes und sah wie eine vollkommene Skulptur aus. Dann stand sie auf und ging ins Badezimmer. Anne legte sich währenddessen auf La Chaise. Sie trug eine Jeans mit Nieten an den Taschen. Sie fand die Liege unbequem. Sie rutschte ein wenig hin und her, ehe sie wieder aufstand.
War sie denn wenigstens günstig, fragte Anne.
Ursprünglich ja. Sie war ein Entwurf für einen Wettbewerb für günstige Möbel. Ich glaube, die Herstellung kostete fünfzehn Dollar damals.
Und heute?
Etwas mehr.
Anne verabschiedete sich. Jennifer winkte ihr hinterher. Sie war wieder allein. Aber nicht einsam. Sie zog sich die Socken aus und rutschte barfuß über das Parkett in einem Kreis um La Chaise. Nicht, weil das irgendetwas bedeuten sollte, sondern weil ihr danach war. Nach Bewegung. Nach einem Gefühl unter den Füßen.
Sie öffnete das Fenster und leerte den Aschenbecher. Das Bett war noch nicht da, es war für morgen angekündigt. Sie legte das Handy auf den Hocker neben der Chaiselongue und suchte in einer der Kisten nach der salbeifarbenen Kaschmirdecke. Sie putzte sich die Zähne und legte sich auf La Chaise. In ihrem Wollkleid von Gucci mit Adidas-Streifen, auf ihr die Kaschmirdecke. Dann schlief sie ein.
Sie wachte vor Sonnenaufgang auf. Es schneite immer noch. Tauben schliefen, den Kopf unter die Flügel gesteckt, auf dem gegenüberliegenden Dach. Kurz dachte Jennifer noch einmal an Anne. Die hatte sich gar nicht für sie interessiert. Anne war jemand, der jedes verletzte Eichhörnchen zum Tierarzt brachte. Aber an anderen Menschen hatte sie wenig Interesse. Eigentlich dachte Anne am liebsten über sich und ihre Gefühle nach, aber nie über die der anderen. Dabei tat sie immer so empathisch.
Jennifer ging durch die neue Wohnung. Strich mit den Fingern über die Fensterbretter aus Holz. Sie setzte sich in das große Panoramafenster zur Straße. Unten fuhr ein Räumfahrzeug über den Bürgersteig. Ein Mann in orangefarbener Arbeitskleidung saß darin. Er schaute hoch. Sie schaute runter. Sie winkte ihm. Er winkte ihr. Jennifer dachte über den Brief nach, den sie für Jan geschrieben, aber dann doch nicht auf den Küchentisch gelegt hatte. Sie las ihn noch einmal.
Ich werde Dir wehtun. Ich will es nicht. Aber ich muss es. Damit wir beide frei sind. Ich weiß, dass wir nicht mehr die sind, die sich einmal geliebt haben. Ein Teil von mir wird Dich immer lieben. Aber dieser Teil reicht nicht, damit ich glücklich bin. Und ich meine auch, dass Du mich nicht mehr genug liebst, um selbst glücklich zu sein.
Das klingt so technisch. Und es ist total klar, dass man sich anders liebt als am Anfang. Aber wir beide wollen offenbar anders leben als so, wie wir es zusammen tun. Ich will raus. Ich will Geld ausgeben, ohne mich zu schämen. Ich will so leben, wie ich es für richtig halte. Ich will einen Kühlschrank haben, der schön ist, und nicht einen, der vernünftig ist. Und ich will, dass Du so lebst, wie Du es möchtest. Es gibt kein gemeinsames Leben, das uns glücklich macht.
In den letzten Monaten haben wir das beide gemerkt. Wir haben über Banalitäten gestritten. Unter der Woche, wenn ich spät nach Hause gekommen bin und Du gerade noch wach warst. An den Wochenenden. Es hat mich betroffen gemacht, dass es meistens um Geld ging. Nicht um Geld, das wir beide nicht hatten, sondern um Geld, das da war. Das fand ich noch schlimmer. Zu streiten, weil man nicht weiß, wie man morgen etwas zu essen bekommt, ist das eine. Aber zu streiten, weil es uns gut geht, war letztlich zu viel für mich.
Es macht mich bis heute traurig, dass Du meinst, mein Erfolg sei die logische Konsequenz des Misserfolgs anderer. Ja, meine Eltern haben mich unterstützt. Aber studieren musste ich selber. Anders als die Typen mit den Bootsschuhen und den über die Schultern geworfenen Pullovern kannten meine Eltern keinen dort. Ich kannte keinen dort. Meine Eltern spielten mit niemandem Golf. Sie waren nicht zusammen im Rotary Club. Meine Eltern waren fleißig. Dass sie mir etwas vererbt haben, ist ein Glück. Es war auch unser Glück. Die Wohnung, in der Du das jetzt liest, konnten wir uns alleine nicht leisten. Jetzt gehört sie uns. Du konntest auch so entspannt zu Ende studieren und promovieren, weil meine Eltern uns unterstützt haben. Dich. Und mich.
Wir beide haben uns verändert. Ich werde Dir deswegen nie einen Vorwurf machen. Und ich empfinde unsere Zeit bis heute als ein Geschenk. Das wird sie für immer bleiben. Und ich möchte auch, mit etwas Abstand und wenn Du es willst, in Deinem Leben vorkommen. Aber nicht als Deine Frau. Sondern als eine Freundin. Vielleicht hast Du unendlich viele Fragen. Aber ich glaube, eigentlich bist Du ganz froh, dass ich Dir das jetzt schreibe. Ich glaube, Du wolltest auch woanders hin, Du hast Dich nur nicht getraut.
Du kannst in unserer Wohnung weiterwohnen. Sie gehört zur Hälfte Dir. Und ich brauche sie nicht. Das ist kein vergiftetes Angebot. Ich meine das so. Überleg Dir, wie Du leben möchtest. Es ist Dein Leben. Und Du kannst Dich entscheiden.
Deine Jennifer
Sie klappte den Brief zusammen und legte ihn zurück in das Kuvert, auf dem Jan stand. Dann weinte sie. Nicht aus Trauer, sondern weil sich etwas in ihr gelöst hatte. Sie wusste, jetzt fängt etwas an.
„Gute Menschen“ erscheint am 1. August 2025 bei Piper (208 Seiten, 23 Euro).
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