Kommen wir gleich zur Sache: Wann haben Sie zuletzt versagt? Bei mir war es das journalistische Stage, das ich nicht gekriegt habe. Mo Gawdat, ehemaliger Top-Manager bei Google, glaubte, als Vater versagt zu haben. Sein Sohn starb 21-jährig. So erzählt er es im Podcast «How To Fail» der britischen Journalistin Elizabeth Day.
Dort offenbaren Prominente je ihre drei grössten Misserfolge. Auch Aktivistin Jameela Jamil ist zu Gast: «Ich habe versagt, freundlich zu meinem Körper zu sein.» Elizabeth Day startete den Podcast nach ihrer Scheidung. Nach jahrelangen Versuchen der künstlichen Befruchtung. Sie habe versagt, Mutter zu werden, sagt die Autorin.

Versagen, so scheint es, kann jegliche Lebensbereiche betreffen. Karrieren, Beziehungen – ein ganzes Leben. Oder haben Gawdat, Jamil und Day nicht versagt, sondern sind bloss gescheitert? Versagen scheint vernichtender, endgültiger. Wegen einer Job-Absage ist man noch keine Versagerin. Doch die Grenzen der zwei Begriffe sind schwammig.
Schreckensgespenst Ineffizienz
Den «Scheiterer» gibt es nicht, den «Versager» schon. Das gnadenlose Urteil ist meist eher eine Selbstzuschreibung – mit grossem Einfluss auf unser Selbstbild.
Auch die Literaturwissenschaftlerin Nora Weinelt kann die Begriffe in ihrem neuen Buch «Versagen» nicht trennscharf definieren. Aber sie stellt eine These auf. Scheitern wurde in der modernen Startup-Kultur in etwas fast Positives umgedeutet. Misserfolge sind seither vor allem eins: Chancen.

Versagen bleibt als durch und durch negatives Pendant übrig. Die Angst, zu Versagen, sei bezeichnend für unsere heutige Leistungsgesellschaft. Weinelt zeigt anhand vieler Beispiele auf, wie sich die Semantik der Begriffe verschoben hat – inklusive Blick in die Geschichte.
Moderne Erfindung des Versagers
Historisch gesehen gibt es den Begriff des «Scheiterns» länger. In der Antike meinte es das Zerschellen eines Schiffs auf hoher See. Der Begriff stand für «das Unkontrollierbare», so Weinelt. Homer und Co. hätten nie gedacht, dass der Mensch irgendwas ausrichten könne gegen die Götter, gegen die Natur.

Die Idee, dass ein Mensch versagen kann, ist jung. Erst Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt sich diese heutige Interpretation. Weinelt zitiert ein deutsches Wörterbuch aus den 1950er-Jahren. Beinahe überrascht konstatierten die Autoren, man könne Menschen mittlerweile als Versager bezeichnen.
Von der Waffe zum Mensch
Einst war ein Versager nämlich ein Schuss, der in der Waffe stecken blieb. Das Wort kommt also aus einem mechanischen Kontext. Es ging um Geräte, die nicht funktionierten. Der Ausdruck wird im Laufe der Zeit weiter gefasst. Für jegliches verwendet, das nicht seine erwartbare Wirkung entfaltet: ein «versagendes» Medikament. Die Stimme, die versagt. Oder das Herz.
Die Pädagogik etabliert dann den Versager als Typus: ein Mensch, der nicht zündete. Also etwa ein Schüler, der den Erwartungen der Lehrpersonen nicht gerecht wurde.
Anpreisen des Scheiterns
Versagt und gescheitert wird bis heute. Nur eben feiert seit den 1990er-Jahren die Idee Konjunktur, dass aus jedem Scheitern etwas gelernt werden kann. Um glorreich aufzustehen, gilt es, vorher hinzufallen.
Mantraartig wird in den Unternehmer-Kreisen wiederholt, man müsse sich optimieren, funktionieren, rehabilitieren. Man sei ja des eigenen Glückes Schmied. In diesem Fortschrittsdenken gibt es aber «keinen Endpunkt des Strebens», so Weinelt.
Für Nora Weinelt ist klar, dass die Vorstellung dieses gewinnbringenden Scheiterns auf der neoliberalen Ideologie der letzten 30 Jahre fusst. Ein «Failure Fetish» dominiere TED-Talk-Reden und Diskurse im Silicon Valley. Brüche in der Biografie? Sie werden zelebriert.
Wieso ist das tröstlich? Weil so gepredigt wird, dass wir das Scheitern unter Kontrolle haben. Es ist abwendbar. In diesem Sinne wurde Scheitern immer weniger als etwas Unberechenbares gesehen, sondern zurückgeführt auf einen individuellen Fehler.
Beim Versagen hat diese Umdeutung nicht stattgefunden. Nora Weinelt schreibt: Versagen ist eine «das Subjekt in seinen Grundfesten erschütternde Form des Nichterreichens». Deshalb ist Versagen im öffentlichen Diskurs eher unsichtbar. Schambehaftet.
Die Angst vor dem Versagen
Kein Wunder, fürchten sich genau davor viele Menschen. So auch Journalist Thorsten Glotzmann. In seinem Buch «Herr G. hat Angst» thematisiert er seine verschiedenen Ängste – darunter auch Versagensängste.
Etwa in Prüfungssituationen oder im Sport. «Ständig war mir bewusst, dass ich jetzt bewertet werde», erzählt Glotzmann: «Ich verkrampfte mich, weil ich Angst hatte, Fehler zu machen und zu versagen.»
Damit einher ging die Bedrohung – aufgrund des Versagens – von der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. In der Endlosschlaufe dreht der Gedanke: Was denken die anderen wohl?
Im Hamsterrad um Anerkennung
So hat die Angst vor dem Versagen zwei Gesichter. Einerseits geht es darum, an einem Ideal zu scheitern, eine Leistung nicht zu erbringen.
Andererseits kann sie sich in eine soziale Angst wandeln: Ersatzbank, Aussenseiterin, Lachnummer. Die Angst vor dem Blick der anderen kam dazu, erzählt Glotzmann. «Das ging einher mit einem Gefühl der Scham, weil ich mich nicht blamieren wollte.»
Der «innere Kritiker»
Von aussen betrachtet sind Versagensängste meist schwer nachvollziehbar. Glotzmann ist Journalist, Philosoph, Co-Autor der Arte-Serie «Unhappy», produzierte zahlreiche Dokumentarfilme. Bei ihm klappt doch vieles – woher kommt seine Versagensangst?
«In der Psychologie redet man vom ‹inneren Kritiker›. Das ist bei mir eine innere Stimme, die ständig urteilt und warnt.» Sätze wie «Sei kein Versager» oder «Streng dich an» habe er als Kind internalisiert. «Diese Sätze begleiten dich ein Leben lang.» Dank Therapie habe er einen guten Umgang damit gelernt.
Weg vom Wendepunkt
Thorsten Glotzmann hat es geholfen, öffentlich über seine Ängste zu schreiben. Auf Lesungen merke er, dass viele die Angst teilen: «Es hat etwas Verbindendes.»
Will nicht heissen, dass Thorsten Glotzmann aus der Versagensangst wiederum eine Erfolgsgeschichte drehen will. «Die Schwäche muss nicht zur Stärke werden. Die Schwäche darf einfach sein. Verletzlichkeit darf einfach sein.»
Ein (metaphorischer) Schiffbruch, der also kein Untergang ist. Aber auch nicht gezwungenermassen ein Neuanfang.
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