Mirror“ heißt eine ihrer großformatigen Zeichnungen: In ihr spiegelt Jenny Saville alte Meister der Kunstgeschichte, aber auch sich selbst. Das klassische Motiv eines liegenden weiblichen Aktes ist ihr Thema und dazu kann sie aus vielen Quellen schöpfen. Mit Giorgione, Tizian, Veronese hat die Renaissance grandiose Vorbilder geliefert. Auch Diego Velázquez’ sinnliche „Venus vor dem Spiegel“ bewundert die Reflexion ihres Ebenbildes. Schon auf die Kunststudentin Saville machte das Gemälde in der Londoner National Gallery großen Eindruck.

In ihrer eigenen Zeichnung zitiert Saville in der linken Bildhälfte Velázquez mit überlagernden, sich umarmenden Figuren; dazwischen taucht auch der Kopf von Édouard Manets „Olympia“ auf. Mit dem Kohlestift erzeugt die britische Künstlerin mit mal präzisen, mal hurtig umkreisenden Linien dynamische Bewegung und plastische Tiefe. Rechts im Bild lagert ein weiterer Akt, diesmal mit einem Selbstbildnis von Saville.

Eine Venus auch sie. Ihre virtuos dargestellten Glieder verschlingen sich mit den anderen Körpern. Tradition und Gegenwart der figürlichen Darstellung berühren sich auf der Leinwand. Auch die Moderne kommt mit Köpfen von Pablo Picasso und Willem de Kooning zu ihrem Recht. Im Hintergrund grüßt noch ein Echo auf Giorgiones elegische Landschaften.

Die facettenreiche, 152 Zentimeter hohe, 215 Zentimeter breite Arbeit von 2011/12 wurde vom Auktionshaus Sotheby’s für eine Versteigerung am 24. Juni 2025 in London auf 800.000 bis 1,2 Millionen Pfund geschätzt. Mit 2,14 Millionen Pfund (mit Provisionen) verdoppelte der erfolgreiche Bieter die Taxe. Saville bescherte der Zuschlag einen neuen Auktionsrekord für eine Zeichnung.

Gepusht von Saatchi und Gagosian

Mit einem gespiegelten Konterfei ihrer selbst betrat die in Glasgow ausgebildete Künstlerin im Jahr 1992 die britische Szene – mit Aplomb. Prekär auf einem viel zu kleinen Schemel hockend, stellte sich die damals 22-Jährige auf dem Gemälde „Propped“ mit überquellendem Körper dar, in einem damals schon überlebensgroßen Format.

Charles Saatchi, der einflussreiche Sammler junger britischer Künstler, erwarb das Bild und lancierte Savilles Karriere, wie auch der Megahändler Larry Gagosian, der sie heute noch vertritt. „Propped“ erzielte 2018 bei Sotheby’s mit 9,5 Millionen Pfund den Auktionsrekord für das Werk einer lebenden Künstlerin. Erst vor im Frühjahr 2025 machte ihr Marlene Dumas diesen Rang streitig, als deren Gemälde „Miss January“ für 13,6 Millionen Dollar versteigert wurde.

Savilles Debüterfolg ist jetzt auch in ihrer ersten umfassenden britischen Retrospektive in der Londoner National Portrait Gallery präsent. In der von ihr passend betitelten „Anatomie der Malerei“ konfrontiert sie den Betrachter mit gigantischen Leibern und erbarmungslos geschilderten Gesichtern mit all ihren physischen Mängeln. Mag das Sujet oft unbequem, radikal erscheinen, Savilles überschwängliches Fest mit diesen „Dosen von flüssigem Fleisch“ – so zitiert sie Willem de Kooning – mit ihren taktil, cremig aufgetragenen Farben zwingt zum Verharren, es verführt.

Bestätigt diese Ausstellung ihren Rang als Malerin, so überraschen auch hier ihre virtuosen, ebenfalls großformatigen Zeichnungen mit Kohlestiften und Pastell. In ihren Mutter-und-Kind-Motiven, von Michelangelo inspiriert, entzückt sie mit Zärtlichkeit, aber auch der Dynamik, der sich sehr realistisch windenden, quirligen Babys. Auch als Mutter schildert sie sich selbst.

Als beste Sommerausstellung für das große Publikum in London wird die Schau in der National Portrait Gallery von Kritikern gepriesen. An der Spiegelung von traditioneller Kunst und Savilles sehr gegenwärtigen Präsenz in der Zeichnung „Mirror“ kann sich leider nur der anonyme Käufer erfreuen.

„Jenny Saville: The Anatomy of Painting“, bis 7. September 2025, National Portrait Gallery, London

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