In den von Heinrich Bleicher edierten „Gesprächen über Hans Mayer“ nennt Jost Hermand den Nestor der deutschen Literaturwissenschaft, Hans Mayer (1907-2001), einen „Partisanenprofessor“. Bei aller Anerkennung und Prominenz sei Mayer „als Jude, Homosexueller und Linker“ stets ein „Deutscher auf Widerruf“ (so der Titel von Mayers Autobiografie) geblieben. Immerhin fand Mayer nach dem Weggang aus der DDR 1963 in Tübingen, der alten Kaderschmiede der Geisteswissenschaften, tatsächlich so etwas wie eine Art Heimat, umgeben von engen Freunden wie Ernst Bloch, Walter und Inge Jens, die im Interview-Band sagt, Mayer sei „ein wirklich begnadeter Vermittler deutscher Kultur“ gewesen.

Als Emeritus entbunden von der Fron des Lehrstuhls in Hannover, entstanden seit 1973 am Neckar und während zahlreicher Auslandsaufenthalte die Spätwerke eines freien Autors. Mit der Niederschrift seiner von Gewalt, Demütigung und Verfolgung geprägten Biografie konnte Mayer allerdings erst außerhalb Deutschlands beginnen, als aufatmender Gast von Stéphane Mosès in Israel. Am Ende von „Ein Deutscher auf Widerruf“ steht daher, alles nüchtern summierend: „Jerusalem, 3. März 1979 – Tübingen, 12. Januar 1984“.

Exemplarisch trifft die doppelte Charakteristik als Partisanenprofessor und Kulturvermittler auf Hans Mayers monumentalen Essay „Außenseiter“ von 1975 zu, der in drei Teilen eine von singulärer Belesenheit und großem Erzähltalent geprägte Literatur- und Kulturgeschichte über Frauen, schwule Männer und Juden von der Antike bis in seine Gegenwart bietet, und das unter glitzernden Titeln: Judith und Dalila, Sodom, Shylock.

Hans Mayer über Frauen

Mit den Titeln sind Typen genannt, deren Spur sich durch die Geschichte verfolgen lässt: Judith ist die erschreckende Frau, die selbst Waffe und Initiative in die Hand nimmt und Holofernes enthauptet, Dalila hingegen die sexuell und also ebenfalls bedrohlich emanzipierte Frau, die Simson (mindestens) die Haare abschneidet und entkräftet. Ihren Schicksalen geht Mayer nach, von archaischen Männerfantasien bis zu den großen Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts, um beim Sexchange Gottes auf einem feministischen Kongress 1973 anzukommen: „In God we trust. – She will provide“, und einen Grundgedanken der Gender-Theorie zu etablieren: Es ist „nicht das gesellschaftliche, sondern das geschlechtliche Sein, welches das Bewusstsein bestimmt.“

Integriert in das Kapitel zur „Bilderwelt der Frau“ zwischen Fremdbestimmung und Befreiung ist eine Studie zu Richard Lindner, dessen grellfarbige Bilder und Grafiken zu oft imitierten Ikonen der Popkultur avancierten. Mayer erinnert an Lindners Biografie, der als Jude 1941 knapp der Ermordung durch die Nazis nach New York entkam, und entziffert den deutschen Alptraum, den sein Werk visualisiert. Für die Erstausgabe der „Außenseiter“ hat Suhrkamp 1975 ein Pink gewählt, das Gay und Women’s Liberation sinnig genug signalisiert; ein Cover von Lindner, mit dem man heute weniger den Holocaust als die Beatles assoziiert, wäre ebenso sinnvoll gewesen.

„Sodom“ als Signum uralter Verurteilung der Männerliebe zum Tod auf dem Scheiterhaufen spannt nach antikem Vorlauf den Bogen von Marlowes Tragödie der Männerliebe im von Brecht kongenial übersetzten „Edward II.“, zu Winckelmanns Ermordung und dann zu Andersen mit der Camouflage seiner Homosexualität als unheilbar abseitige Seejungfrau und falsch gegossener Zinnsoldat. Von dort führt der Weg zu Arthur Rimbaud als „Aktivist seiner Erfahrungen“ und zu Jean Genet, dessen Fall Mayer exzellent und pro domo als „die Rettung eines Menschen durch Schreiben“ charakterisiert.

Was Mayer für Frauen notiert, gilt auch für den zweiten Teil, der die latente Panik des Lebens schwuler Außenseiter in der sie nie ganz akzeptierenden Gesellschaft pointiert: „die Beziehungen zwischen den Geschlechtern von Aggression und Gewalt befreien“: ohne Angst anders sein dürfen. Für beide Außenseiter, befreite Frauen und schwule Männer, gilt Mayers Bonmot: „Der Ruf nach ‚Recht und Ordnung‘ meint stets auch die Ordnung im Bett und das Unrecht der Minderheit.“ Auch in der liberalen Gesellschaft stehen Frauen und Schwule unter dem eisig abweisenden „Zwar – Aber“.

Hans Mayer über Juden

„Shylock“ schließlich, die von Shakespeare auf die Bühne gebrachte Gestalt des Juden als erbarmungslosen Geschäftsmanns, steht als Titel über dem dritten Teil zur Geschichte des Antisemitismus im Spiegel der Literatur. Dokumentiert wird eindringlich, dass Juden die von Adorno formulierte und von Mayer zitierte einfache Einsicht vorenthalten wird: „dass der Jude ein Mensch ist“.

Überragend gelungen ist Mayer hier die Herausarbeitung der Gründe für den erheblichen Antisemitismus in der Literatur des deutschen Realismus: In diesem artikuliere sich eine Sehnsucht nach vorbürgerlichen Verhältnissen, nach einer Lebenswelt vor Entstehung moderner Geldwirtschaft, Industrialisierung, großer Städte, analytischer Intellektualität. Folgerecht wird „der Jude“ im Realismus, exemplarisch bei Wilhelm Raabe und Gustav Freytag, zur idealen Projektionsfläche all dessen, was der Realist ablehnt und hasst. Er wird der „jüdische großstädtische Intellektuelle“, und es entsteht der böse Gegensatz zwischen deutsch-bodenständiger und jüdisch wurzelloser Existenz. Freytags Roman „Soll und Haben“, der dem treudeutschen Anton Wohlfart den stereotyp gezeichneten Juden Veitel Itzig als Gegenspieler zuordnet, war bis 1945 ein Bestseller.

Die zuweilen beschworene angeblich besondere Nähe zwischen Juden und Deutschen als Außenseitern unter den Völkern wird von Mayer kühl entzaubert: Der Parallelismus „zwischen gesellschaftlicher Unreife der deutschen Zustände und der gescheiterten jüdischen Assimilation ist nur scheinhaft. Ein Volk wie das deutsche kann nicht zum Außenseiter werden, weil es Sprache, Geschichte und Land besitzt, die integrierend zu wirken vermögen. (…) Leiden an Deutschland war nie etwas anderes als Reaktion deutscher Außenseiter auf die deutsche Regelmäßigkeit.“

Der jüdische Außenseiterstaat

Mit der Gründung des Staates Israel, notiert Mayer, wurde „aus dem bisherigen isolierten jüdischen Außenseiter inmitten einer nichtjüdischen Bevölkerung ein jüdischer Außenseiterstaat inmitten einer nichtjüdischen Staatengemeinschaft.“ Diesem Staat Israel, den er oft besuchte, gilt seine Solidarität, und er bezieht im Kapitel über „Antisemitismus nach Auschwitz“ dezidiert Stellung gegen jene, die zwischen Antizionismus und Antisemitismus unterscheiden wollen:

„Das ist unsere Wahrheit hier und heute. Wer den ‚Zionismus‘ angreift, aber beileibe nichts gegen die ‚Juden‘ sagen möchte, der macht sich oder andern etwas vor. Der Staat Israel ist ein Judenstaat. Wer ihn zerstören möchte, erklärtermaßen oder durch eine Politik, die nichts anderes bewirken kann als solche Vernichtung, betreibt den Judenhass von einst und von jeher.“

Eine mäkelnde Kritik, die weniger das Geleistete würdigt als vielmehr das Vermisste beklagt, kann mühelos Defizite von Hans Mayers nunmehr 50 Jahre altem Klassiker der Literatur- und Kulturtheorie benennen. Das gravierende Defizit von „Außenseiter“ ist das Fehlen eines vierten Teils über Rassismus und Kolonialismus. Solche Kritik, die sich leicht vermehren ließe, übersieht jedoch zweierlei: dass dem Titel der bestimmte Artikel fehlt und dass die präsentierten Außenseiter mithin einstehen für alle Menschen, die von einer gesellschaftlichen Mehrheit aus welchen Gründen immer ausgegrenzt, bedroht werden und in Angst leben.

Die von Mayer eingangs konzise entwickelte Unterscheidung zwischen intentionalen und existenziellen Außenseitern eröffnet weiterhin einen methodischen Zugang zum Problem. Bleibend aber ist vor allem das Grundargument dieses Buches: dass Theorie, das Arbeiten mit allgemeinen Kategorien, den Einzelfall, das individuelle Schicksal unvermeidlich wegschneidet. Literatur hingegen, argumentiert Hans Mayer, „gehorcht der Kategorie des Besonderen. (…) Sie behandelt stets Ausnahmefälle.“ Literatur, ihre Produktion und ihre Deutung, bleiben daher für eine Kulturtheorie unverzichtbar, die den bedrohlichen Abgrund zwischen Allgemeinem und Besonderem, zwischen Integrierten und Außenseitern überbrücken will.

Eckart Goebel lehrt Komparatistik an der Universität Tübingen. Hans Mayers Studie „Außenseiter“ ist bei Suhrkamp als Print on Demand lieferbar.

Der Literaturhistoriker Hans Mayer zählt zu den berühmten Gelehrten der deutsch-deutschen Nachkriegszeit. Er wurde 1907 in Köln geboren und starb 2001 in Tübingen. Als Jude und Marxist ging er 1933 ins Exil, zunächst nach Paris, dann Genf. 1938 wurde ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. Nach dem Krieg ging er in die Sowjetische Besatzungszone. 1948 wurde er Ordinarius für Kultursoziologie und Literaturgeschichte in Leipzig. Er hat, neben Ernst Bloch, den legendären Hörsaal 40 an der dortigen Universität bespielt. Uwe Johnson, Christa Wolf und Volker Braun studierten bei ihm. 1963 ging Mayer in den Westen, als selbsterklärter „Kommunist ohne Parteibuch“ sah er die DDR mit ihrem Anspruch, das bessere Deutschland zu sein, gescheitert. Von 1965 bis 1973 lehrte er an der TU Hannover, 1995 wurde er Honorarprofessor an der Uni Tübingen. Zu seinen bekanntesten Werken zählen, neben den Fachaufsätzen, „Außenseiter“ (1975) und „Ein Deutscher auf Widerruf“ (1982/84), seine Erinnerungen in zwei Bänden.

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