Hannes und Polina werden am gleichen Tag von verschiedenen Müttern geboren und wachsen in geschwisterlicher Verbindung auf. Polina ist hübsch und klug, Hannes kauzig und ein bisschen lebensunwillig. Also müssen es Polina und die Liebe richten.

In den Sommerferien vor ihrem Abitur reist Fritzi Prager "mithilfe mehrerer Regionalzüge, einer Lastwagenfahrerin und eines verliebten Paares, das sie über den Brenner mitnahm, in die toskanische Stadt Lucca". Fritzi stammt nicht nur aus einem schwierigen Elternhaus, sondern ist auch unglaublich klug und überwältigend schön. In Lucca lässt sich die 17-jährige "aus Mitleid" von einem deutlich älteren Marmorhändler aus Hamburg zu Sex überreden, wird schwanger und als Lesende fragt man sich das erste Mal, wie es möglich ist, in den 2020er Jahren einen Roman zu schreiben, der die Problematik einer solchen Beziehung komplett unthematisiert lässt.

Die unglaublich kluge und überwältigend schöne 17-jährige Fritzi verbittet sich dennoch sehr erwachsen jede Einmischung in ihre unerwartete Schwangerschaft und gebiert kurz vor ihren Abiturprüfungen den kleinen Hannes, den sie gern mit Vor- und Zunamen anspricht, Hannes Prager. Dann macht sie ein 1er Abi, entscheidet sich aber gegen ihr seit immer geplantes Jurastudium, obwohl sie sogar ein Stipendium hätte. Denn sie ist ja Mutter geworden und gegen dieses überwältigende Gefühl ist die zuvor skizzierte intellektuelle Schärfe offenbar komplett machtlos.

An dieser Stelle hat die eigentliche Haupthandlung des Romans "Für Polina" von Takis Würger noch nicht einmal begonnen. Dafür hat der frühere Spiegel-Journalist und jetzige Bestsellerautor schon die Chance liegen lassen, aus der Begegnung mit Güneş, die zeitgleich mit Fritzi die kleine Polina bekommt und spontan die Wochenbetten im Krankenhaus zusammenschiebt, eine wirklich tiefe Frauenfreundschaft werden zu lassen. So aber bleibt Güneş eine Art Holzschnitt, Fritzi fliegt zu Hause mehr oder weniger raus und - Auftritt für einen männlichen Retter.

Heinrich Hildebrand ist ein kauziger Autor und bewohnt versehentlich mietfrei eine Villa im Bissendorfer Moor bei Hannover. Dort wächst Hannes nun auf, in einer WG, die sich natürlich in kürzester Zeit zu einer Art Familie entwickelt. Zwischen Pflaumenbäumen und Rhabarber im Garten sind auch immer wieder Polina und ihre Mutter zu Gast.

Schwester, Heilige und Inspiration

Polina ist die nächste unfassbar kluge und gleichzeitig wunderschöne weibliche Figur. Schon als Kind ist das vollkommen offensichtlich, und der kleine Hannes, der zwar eine Vorliebe für Dostojewski hat, aber ansonsten zunächst nicht durch besondere Gaben auffällt, liebt diese Schwester, die eigentlich keine ist, innig. Natürlich nicht, ohne bei jeder Gelegenheit, ihre haselnussbraunen Augen und ihr "Pfirsichhaar" zu bemerken. Zwischenzeitlich verschwindet Polina mit ihrer Mutter in die Türkei, kehrt aber rechtzeitig zur einsetzenden Pubertät zurück.

In der Zwischenzeit hat sich überraschend herausgestellt, dass Hannes ein Klaviergenie ist. Nicht nur, dass er schwere klassische Werke nur vom Hören spielen kann, er komponiert auch. Menschen verwandeln sich in ihm quasi in Musik, zuallererst Polina. Und Hannes lernt seinen Erzeuger kennen, den Marmorhändler mit einem Herzen aus Stein, dem Fritzi plötzlich den Sohn nicht mehr vorenthalten mag.

Das ist insofern praktisch, als Hannes ihn kurz darauf als Elternteil in Anspruch nehmen muss, nachdem Fritzi überraschend und tragisch aus der Handlung ausscheidet. Hannes Prager verlässt die Moorvilla und zieht zu seinem Vater nach Hamburg, kann aber mit ihm keine wirkliche Beziehung aufbauen und auch die Musik verlässt ihn.

Also arbeitet er fortan als Klaviertransporter, ohne selbst zu spielen, der Kontakt zu Polina bricht allmählich ab. Ihn rettet nur die Verbindung zu seinem Freund Bosch, mit dem gemeinsam er die Klaviere schleppt. Schließlich spielt Hannes doch wieder, zufällig - und wird genauso zufällig dabei gefilmt und zur Internetsensation. Und er sucht Polina.

Wenn es nur der Kitsch wäre

Es ist nichts gegen eine Liebesgeschichte einzuwenden, wirklich nicht. Sie darf sogar ein bisschen kitschig sein. Nichts für ungut. Aber was genau hat Würger getrieben, aus Polina, auf die sich Hannes' ganzes Sehnen richtet, ein Manic Pixie Dream Girl zu machen? Diese Figur, die ausschließlich existiert, um dem grüblerischen, schwermütigen Hannes beizubringen, das Leben zu lieben, ohne eigene Bedürfnisse, Ziele oder eine relevante Charakterentwicklung, ist eine Beleidigung für die Lesenden.

Robert Stadlober liest Würgers Roman ein wenig elegisch, so dass ihm immer genug Zeit bleibt, die bandwurmartigen, mit Adjektiven und bildhaften Beschreibungen aufgeladenen Sätze, zu Ende zu bringen. Manchmal wünscht man sich beim Zuhören einen kleinen Ausbruch, der jedoch nie kommt. Nur selten lässt sich ahnen, was Stadlober den Figuren an Individualität hätte entlocken können, beispielsweise, wenn er Heinrich Hildebrandt ein wenig Wiener Zungenschlag lässt.

Immerhin deutet alles auf ein Happy End hin und bis dahin kann man ja bei jeder Erwähnung der Haare, Augen oder des Geruchs einer Protagonistin einen Schnaps trinken. Dafür muss man allerdings einiges vertragen können.

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