Im Herbst 2023 habe ich Wolfgang Grupp noch am Hauptsitz von Trigema in Burladingen besucht. Die Bäume waren schon orange und gelb gefärbt. Auf den Straßen und Wegen der Schwäbischen Alb lagen schon Blätter. Der Textilunternehmer hatte bekannt gegeben, die Firma an seine Kinder Bonita und Wolfgang zu übergeben. Es war einer der letzten Tage von Wolfgang Grupp als Geschäftsführer von Trigema – seinem Lebenswerk.

Grupp war damals 81. Er war nicht jugendlich. Aber doch jung geblieben. Er war dynamisch, konzentriert und bei der Sache. Grupp war jemand, der hart im Urteil über andere war. Die Unternehmer, die Karstadt in die Pleite trieben, nannte er wiederholt und lautstark „Versager“. Aber er war, so ist das oft bei Leuten mit harten Urteilen über andere, besonders hart zu sich.

Das wurde vor allem an seinem Körper deutlich. Ich musste an Karl Lagerfeld denken, der nach einer doch eher kräftigen Phase abnahm, um in die neuen Dior-Anzüge von Hedi Slimane in Größe 46 zu passen. Wer 81 Jahre alt ist, und so einen Körper wie Grupp hat, muss viel dafür tun. Grupp war ein Mann voller Disziplin. Die Anzüge, die Hemden mit den Kragen und Kragenstäbchen, die Tatsache, dass er immer eine Krawatte trug, unterstrichen das. Sein Leben war seine Arbeit. Grupp sagte mir damals: „Ich persönlich trage einen Anzug nicht für mich, sondern aus Respekt vor meinem Gegenüber. Anziehen ist Disziplin, auch zu Hause habe ich gegenüber meiner Frau oder meinen Hausangestellten eine gewisse Verpflichtung.“ Grupp war immer im Dienst. Sein Leben war seine Arbeit. Und seine Arbeit war sein Leben.

Am Ende des Gesprächs fragte ich Wolfgang Grupp, ob er „Papa ante portas“, diesen Loriot-Film, schon mal gesehen habe. Darin geht es um einen Mann, der in den Ruhestand versetzt wird und mit diesem neuen Leben scheinbar ohne Sinn überfordert ist. Ich hatte mich schon vorher gefragt, was er wohl machen wird im Ruhestand, oder ob so jemand überhaupt Ruhestand kann, ob er das aushält. Grupp meinte, er habe den Film nicht gesehen. Außerdem hatte er schon vor, weiter in die Firma zu gehen.

Am 8. Juli in diesem Jahr kamen die ersten Meldungen, dass Wolfgang Grupp im Krankenhaus sei. Ein Rettungshubschrauber sei auf Grupps Anwesen gelandet. Es sei auch ein Schuss zu hören gewesen. Jetzt meldet sich Wolfgang Grupp aus dem Krankenhaus mit einem Brief zurück, der in verschiedenen Medien komplett veröffentlicht wurde.

„Ich bin im 84. Lebensjahr und leide an sogenannten Altersdepression. Da macht man sich auch Gedanken darüber, ob man überhaupt noch gebraucht wird. Ich habe deswegen auch versucht, mein Leben zu beenden. Es kann etwas länger dauern, bis ich wieder ganz gesund bin“, schreibt Grupp dort. Der Brief endet mit: „Ich bedauere sehr, was geschehen ist und würde es gerne ungeschehen machen. Mit freundlichen Grüßen und vielen Dank, Ihr Wolfgang Grupp“ Der Brief und die Berichterstattung darüber sind ein Wendepunkt. Ein persönlicher für Grupp. Und ein medialer.

Ich selbst bin depressiv. Mal mehr. Mal weniger. Aber die Krankheit ist doch immer da. Sie bestimmt manchmal, ja vielleicht oft, wie es mir geht, wie ich mich fühle. Sie bestimmt aber auch – und das ist viel schlimmer – das Leben der Menschen, die ich liebe. Das Unverständliche für das Außen, der besondere Schmerz für das Innere entsteht dadurch, dass objektiv alles super sein kann, während subjektiv alles furchtbar ist.

Die Sonne, das Lachen meiner Kinder, die Liebe meiner Frau, der Erfolg im Beruf, der zweite Roman, der bald erscheint – alles scheißegal. Ich liege im Bett und hasse mich und die Welt. Im Inneren steigt der Druck. Ich werde ungeduldig. Ich ziehe mich zurück. Ich glaube, alle hassen mich. Ich schlafe viel. Seit Januar nahm ich keine Anti-Depressiva mehr. Heute habe ich wieder angefangen. Mir einzugestehen, dass es ohne Medikamente nicht geht, war für mich schwer. Nicht so schwer wie beim ersten Mal, überhaupt zu erkennen, dass ich Hilfe brauche, aber dennoch ein Kraftakt.

In meiner Arbeit bin ich maximal mündig. Meine Texte, meine Bilder, meine Bücher, die bestimme ich. Mein Leben aber bestimmt in großen Teilen eine Krankheit. Die bösartige Ironie daran ist, dass meine Mündigkeit und Freiheit, die mir so wichtig sind, Zeit meines Lebens durch meine Depression gefährdet sind. Mein Erwachsenwerden, mein Drang nach Erfolg, nach Sichtbarkeit durch mein Werk, nach radikaler Selbstbestimmung – sich als Autor auszudrücken ist für mich radikale Selbstbestimmung – kommen, so nehme ich an, durch die erlebte Unfreiheit und den erlebten Zwang meines Aufwachsens.

Tragisch daran ist auch, dass sich Depression und dadurch Alkohol-, beziehungsweise Substanzmissbrauch durch mehrere Generationen von Männern meiner Familie zieht. Es ist ein Erbe, dass ich nicht annehmen will, aber es ist nun mal da. Ich versuche, verantwortungsvoll damit umzugehen, um mich davon zu befreien. Auch das heißt Mündigkeit.

Als Unternehmer hat sich Wolfgang Grupp immer als ein Mann der Kontrolle, Verantwortung und Mündigkeit inszeniert. Er machte sich für eine Unternehmerhaftung stark. Verantwortung zu übernehmen, bedeutet mündig zu sein. Eine Depression ist das Gegenteil davon. Dass Grupp – ein Mann, 1942 geboren – noch mit dem Bild des starken Mannes aufgewachsen, das er zeitlebens gelebt und kultiviert hat, nun in seinem Brief eine versuchte Selbsttötung und eine Depression offenbart, ist tragisch, aber gesellschaftlich, so sehe ich es, ein Fortschritt.

Das Schlimmste ist Schweigen

In Medienkreisen heißt es oft, man solle nicht über Selbsttötungen oder Selbsttötungsversuche berichten. Ich halte das für falsch. Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention sieht es ähnlich: „Um die Jahrtausendwende setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Vermeidung der Suizidberichterstattung zwar Folgesuizide verhindern könnte, gleichzeitig aber die weitere Tabuisierung der Suizidthematik fördere“, heißt es auf deren Homepage. Die Schweizer Organisation „Reden kann Retten“ sagt: „Suizid zu thematisieren und offen darüber zu sprechen, ist eines der wirkungsvollsten Mittel, um Suizide zu verhindern. Es wirkt häufig sehr entlastend für alle. Betroffene fühlen sich ernst genommen.“

Gerade merke ich die beginnende Wirkung des vor drei Stunden eingenommenen Antidepressivums Sertralin. Ich weiß, dass ich jetzt die nächsten zwei Wochen einen trockenen Mund haben werde, dass sich mein Kopf zeitweise nach Watte oder Wackelpudding anfühlen wird. Ich weiß, dass das Schwitzen kommen wird und ein paar andere blöde Nebenwirkungen. Ich weiß aber auch, dass es mir dann wieder besser gehen wird. Dass es für meine Familie wieder besser wird. Der Brief von Wolfgang Grupp hat mich darin bestärkt, dass es nichts ist, was man aushalten muss oder aussitzen kann.

Deswegen halte ich es für wichtig über Depressionen und auch über Selbsttötungen zu reden, zu schreiben, zu diskutieren. Das Schlimmste, egal in welchem Bereich, was man machen kann, ist: Schweigen und nichts tun.

Haben Sie suizidale Gedanken, oder haben Sie diese bei einem Angehörigen/Bekannten festgestellt? Hilfe bietet die Telefonseelsorge: Anonyme Beratung erhält man rund um die Uhr unter den kostenlosen Nummern 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222.

Auch eine Beratung über das Internet ist möglich unter http://www.telefonseelsorge.de. Eine Liste mit bundesweiten Hilfsstellen findet sich auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.

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