Der South West Coast Path, das muss gleich zu Anfang dieser windungsreichen Geschichte für alle, die schon für den Sommer in Südengland ihre Rucksäcke und Wanderstiefel bereit haben, festgehalten werden, der South West Coast Path kann nichts dafür. Er führt einmal um Großbritanniens lange, schöne Nase unten links auf der Karte im Südwesten von Mineshead über Land’s End bis nach Poole.

Angelegt wurde er einst, um Schmuggler von den malerischen Klippen aus im Blick zu haben. 1.014 Kilometer ist er lang. 35.031 Höhenmeter gilt es (zu Flussmündungen runter, danach wieder rauf) zu überwinden, wozu man im Himalaja mehr als die vier höchsten Berge der Welt besteigen müsste. Wer sich auf den Weg macht, muss sich deswegen darüber im Klaren sein, dass er kein leichter wird. Der South West Coast Path ist ein bisschen wie das Leben.

Diesen Weg will die heute 63-jährige Sally Walker mit ihrem Mann Tim gegangen sein. Das ist (Gepäckservice und vorgebuchte Hotelzimmer inklusive) in neun Tagen zu schaffen. Wer selbst und unorganisiert loslaufen mag, kann sich Paddy Dillons Urmeter der South-West-Coast-Path-Wanderführer kaufen. Oder – wenn er sich für Lyrik begeistert – „Walking Away“ von Simon Armitage, der war mal britischer Poeta laureatus und Lyrik-Professor in Oxford und Leeds. Kommen beide – darin zumindest war Sally Walker ehrlich – in Sally Walkers „Der Salzpfad“ vor.

Das wiederum ist Sally Walkers Wanderbericht, den Sally Walker – jetzt beginnt die Geschichte windungsreich zu werden – unter dem Pseudonym Raynor Winn vor sieben Jahren veröffentlichte. „Der Salzpfad“ wurde ein Weltbestseller (mehr als zwei Millionen Exemplare hat das Buch bisher verkauft), über den sich die Tourismusbüros entlang der idyllischen, aber wirtschaftlich ansonsten eher prekären britischen Küstengegend ziemlich gefreut haben.

Gerüchte, dass sich, was Sally/Ray da so aufgeschrieben hatte, doch vielleicht nicht ganz so abgespielt hat, gab es schon länger. Sie wären wohl unter der inzwischen ziemlich niedrigen medialen Wahrnehmungsschwelle geblieben, hätte Marianne Elliott „Der Salzpfad“ nicht jetzt mit ziemlichem Staraufgebot verfilmt und wäre „On Winter Hill“, Sallys/Rays nächstes und viertes Selbsterfahrungswanderbuch für Oktober angekündigt worden.

Der Fall dürfte Folgendes sein: Raynor Winn erzählt in „Der Salzpfad“ ihre Geschichte. Wie sie alles verloren, ihr Mann Moth und sie. Sie hatten eine kleine Farm in Wales. Zwei Kinder, die aus dem Gröbsten raus waren. Ihnen ging es gut. Bis – so Rays Version – Moth Geld in das windige Unternehmen seines Kumpels Cooper investierte. Das Geld war dann weg.

Und dann mussten die Winns, ein Richter verurteilte sie dazu, für Coopers Schulden aufkommen. Die Rücklagen schwanden, dann verloren sie das Haus. Ray und Moth werden obdachlos. Als das Räumkommando vor der Tür steht – sieht man in der Verfilmung vom „Salzpfad“, die jetzt ins Kino kommt – fällt Rays Blick auf ein Buch. Paddy Dillons South-West-Coast-Path-Wanderführer. Sie packen, was sie unbedingt brauchen, in ihre Rucksäcke. Und gehen los Richtung Land’s End.

Eine tödliche Krankheit

Was für einen Selbstfindungsbestseller für Menschen am Rand des Prekariats (oder welche, die von der Angst getrieben sind, durchs soziale Netz zu fallen) noch nicht genug Drama gewesen wäre. Weswegen möglicherweise bei Moth in „Der Salzpfad“ parallel zum finanziellen Zusammenbruch seines kleinen Familienunternehmens eine Krankheit diagnostiziert wurde, von der vor dem „Salzpfad“ kaum einer was wusste – CBD, kortikobasale Degeneration. Eine Nervenkrankheit, die zum allmählichen Verlust sämtlicher motorischer Fähigkeiten und im Durchschnitt nach acht Jahren zum Tod führt.

Dass Moth/Tim auch Jahrzehnte nach dem alles heilenden Kreuzweg in Britanniens Südwesten noch lebt und Neurologen, die ihren MRTs in der Regel mehr glauben als an Wunder, das für eigentlich ausgeschlossen halten, ist eine der Seitenepisoden in einer großen Enthüllungsgeschichte des „Observer“. Die kam pünktlich zum Kinostart von Marianne Elliotts „Salzpfad“-Film (in dem „Akte X“-Star Gillian Anderson und Harry Potters Ex-Lucius-Malfoy Jason Isaacs als Ray und Moth an den Klippen entlangwandern) heraus und versuchte, die wahre Geschichte von Sally und Tim zu erzählen.

Dass es mit der schuldlosen Verschuldung der Taylors möglicherweise nicht so weit her war, steht in dem Bericht. Und dass Sally in der Immobilienfirma, in der sie beschäftigt war, 60.000 Pfund unterschlagen habe, für deren Rückzahlung sie einen Kredit aufgenommen habe, weswegen das Paar am Ende mit fast dem Dreifachen der Summe in der Kreide stand. Und dass es, so steht es im „Observer“, auch mit der Obdachlosigkeit nicht ganz so weit her gewesen sei, weil die Taylors seit 2007 in Frankreich ein Haus besessen hätten.

Sally Walker fand die Recherchen des „Observer“, heißt es, „grotesk irreführend“, zeigte sich betroffen über die „aufdringlichen Spekulationen“ um Tims Krankheit und erzählte von „erheblichem Kummer“, den der „Observer“ über sie und ihre Familie gebracht habe. Als Leuchtturm für von CBD-Betroffene taugte sie da schon nicht mehr, Videos von Tim auf der Homepage einer Selbsthilfeorganisation wurden gelöscht. Die Veröffentlichung des Nachfolgebuchs „On Winter Hill“ wurde jetzt verschoben.

Unpilchereske Bilder von Cornwall

Für den Film kam die Enthüllungsgeschichte natürlich zur Unzeit und zu spät. Als die Rechte eingekauft wurden und Rebecca Lenkiewicz das Drehbuch schrieb, selbst noch als Hélène Louvart mit ihrer Kamera auf den Klippen, in den Salzmarschen, am Strand unterwegs war, um die Schönheiten und Fährnisse des britischen Südwestens in bemerkenswert unpilcheresken Bildern einzufangen, mussten die Produzenten glauben, was die Millionen Leser glaubten und was „Der Salzpfad“, das angebliche Sachbuch, ja erst zum Welterfolg gemacht hat.

Für „Der Salzpfad – der Film“ ist das Authentizitätsproblem, das Sally/Raynors Selbsterfahrungsbuch in hohem Maße hat, allerdings vielleicht nicht ganz so groß. Dass Gillian Anderson und Jason Isaacs nicht Sally/Ray und Moth/Tim sind und wahrscheinlich zusammengerechnet kaum mehr als zehn Meilen auf dem Salzpfad unterwegs waren, ist jedem Kinogänger ohne gestörte Fiktionswahrnehmung schon vor dem Kauf der Karten klar. Kurioserweise ist Marianne Elliotts Stationendrama immer genau dann am stärksten, wenn einen Anderson und Isaac vergessen lassen, dass sie eben nicht die sind, die sie spielen. Was sie wundersamerweise dauernd tun.

Wo wir jetzt schon bei Wundern sind. So groß war das Wunder des „Salzpfad“-Erfolgs natürlich nicht. Pilgerschaftsberichte, Erzählungen von Menschen, die vor ihren Dämonen oder, profaner, ihren Schulden fliehen, losgehen und mit jedem Schritt sich selbst und dem Sinn des Lebens und dem ganzen Rest an Weltbewusstsein näherkommen, sind seit ein paar Jahrzehnten verlässliche Auflagenbringer. Und die Briten, die über ein beneidenswert umfangreiches Netz an gut beschilderten Fußwegen verfügen, sind die zumindest Europameister im Hiking writing, der literarischen Gattung mit der wahrscheinlich simpelsten aller Plotstrukturen.

Ray Winns am Ende wohl semifiktive Wanderschrift hat sogar ein unmittelbares Vorbild, das just in jenem Jahr Welterfolg wurde, als Moth und Ray sich auf den Weg gemacht haben wollen. „Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry“ hieß das Buch, und das Authentizitätsproblem stellte sich hier gar nicht erst. Nicht Harold Fry hat es geschrieben, sondern Rachel Joyce. Und die Geschichte des pensionierten Brauereiarbeiters Harold Fry, der in alten Slippern und einer fadenscheinigen Strickjacke, aufbricht, um über 500 Meilen von Devon (Großbritannien, auf der Karte unten links) bis nach Berwick-upon-Tweed (Großbritannien eher oben rechts) zu wandern, um sich von einer sterbenden Ex-Kollegin zu verabschieden, firmierte als Roman.

Der authentischere Film

In „Harold Fry“, der vor zwei Jahren, verfilmt mit dem wunderbaren Jim Broadbent als Wanderer, ins Kino kam, war schon alles drin, was jetzt in von salziger Gischt und Regen verdünnter Form auch den „Salzpfad“ ausmacht. Das Gehen als Therapie, als Mittel zu dem zu finden, was Menschen wirklich ausmacht. Eine Geschichte von der existenziellen Erfahrung einer unerbittlichen Natur, von den Gefahren einer auseinanderbrechenden Gesellschaft und dem Rettenden, das sich gerade da findet, wo man nicht mit ihm rechnet.

Im Sommer, vom Gewitter bedroht, von Mücken überfallen, wenn die existenzielle Naturerfahrung nicht nur auf der Leinwand stattfindet, kann man sich ganz prima auf den „Salzpfad“ begeben. Für den Rest des Jahres ist „Harold Fry“, die erfundene Geschichte, der ehrlichere, der authentischere Film.

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