Vier Jahre ist es jetzt her. Da ging der Deutsche Buchpreis an ein Werk, das mitten ins Herz unserer Debatten traf. „Blaue Frau“ hieß es geheimnisvoll. Geschrieben hatte es Antje Rávik Strubel. Acht Jahre saß sie, die eine der sprachmächtigsten, aber auch skrupulösesten Schriftstellerinnen ist, die wir haben, daran. Denn das Thema hatte es in sich: Es ging um die Vergewaltigung einer Frau und die Folgen.

Einer landfremden Frau, wie man gleich hinzufügen muss. Einer Tschechin in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Die nach Finnland flieht. Vor ihrem Peiniger, aber auch vor sich selbst, tief traumatisiert und verwirrt, wie sie ist. Die Leser dieses weit ausgreifenden Romans wurden nicht darüber im Unklaren gelassen, was die junge Frau im Zentrum des Buches an Qualen durchzumachen hat. Aber sie wurden auch mit betörend schönen Landschaftsschilderungen konfrontiert.

In der „Blauen Frau“ waren es die Breiten und Weiten Finnlands. Land der hellen Wälder, Land der dunklen Seen. In anderen Romanen war der Zauber schwedischer Inseln vor den Lesern ausgebreitet worden. Ja, Antje Rávik Strubel beherrscht das „nature writing“. Sie beherrscht es durch Genauigkeit, aber sie begnügt sich nicht mit Präzision. Die gebürtige Potsdamerin, die sich im persönlichen Gespräch so märkisch nüchtern gibt, kann nämlich auch beherzt in die Harfe greifen.

Und dann funkeln die Farben, dann glitzert die Luft, auch in ihren tieferen Schichten. Dann stürzen die Tage mit Aplomb in die Nacht, dass die Metaphern nur so krachen, manchmal auch knistern. Eine verwirrende Doppelgesichtigkeit empfängt einen in den Arbeiten dieser Fünfzigjährigen, die, wenn sie neben einem hergeht und ihr Fahrrad mit leichter Hand vor sich herschiebt, mehr wie ein zierliches junges Mädchen wirkt. Es ist die Doppelgesichtigkeit von Texten, die rationalistisch konstruiert sind und noch rätselhaft bleiben. Man kommt ihnen mit Analyse nicht ganz bei. Sie enthalten alle einen atmosphärischen Mehrwert, einen Traum von großer Magie.

Das drückt sich schon in den oft erratischen Titeln aus. Zum Beispiel in dem ihrer jüngsten Veröffentlichung: „Der Einfluss der Fasane“ (S. Fischer) – welchen Einfluss könnten solche Vögel haben? Was soll das heißen, was damit gemeint sein? Nun, könnte die Antwort lauten, komm in den totgesagten Park und schau! Denn es ist ein Park, in den die Autorin zum Gespräch unter vier Augen bittet, und er liegt in Potsdam. Er umgibt das Schloss Babelsberg, einst für den späteren Kaiser Wilhelm I. in seiner Zeit als Kronprinz gebaut. In ihrem launigen, vor über zehn Jahren erschienenen Reiseführer „Gebrauchsanweisung für Brandenburg“ hat sich Strubel zu diesem Ort als ihrem Lieblingspark im Gartenreich von Potsdam bekannt, das man auch das preußische Arkadien genannt hat.

Antje Rávik Strubel ist aber nicht der Typ, der angesichts des Schimmers ferner lächelnder Gestade in Verzückung gerät, schon gar nicht, wenn es sich um die Gestade der Havel handelt, die ja auch von hier aus gesehen nicht so furchtbar weit weg sind. Sie würde zudem nie, um noch ein wenig weiter das berühmte Park-Gedicht von Stefan George zu plündern, behaupten, der reinen Wolken unverhofftes Blau erhelle die Weiher und die bunten Pfade. Sie ist nicht einmal besonders preußenaffin. Die vielen Schlösser und Herrenhäuser in der Gegend verbucht sie eher spöttisch unter „Architekturpiraterie“. Schließlich hätten sich deren Bauherren (meist preußische Könige und Prinzen) dabei mal bei französischen, mal bei italienischen und mal bei englischen Vorbildern doch ziemlich ungeniert bedient (Letzteres vor allem im Fall von Babelsberg).

Ein bisschen Begeisterung darf dann aber doch sein: „Es ist schon toll, hier zu leben“, versichert sie knapp, um das jetzt abgehakt zu haben. Aber es kann natürlich bei einer so kalkuliert arbeitenden Autorin kein Zufall sein, dass dieser Park von Babelsberg, von dem aus man über eine schmale Brücke schnell in das noch verwunschenere Klein Glienicke gelangt, die Umgebung ihrer Hella Karl ist, der Heldin des neuen Buches. Einer karl- oder auch kerl- beziehungsweise sogar knallharten Journalistin. Die zwar keine Fasane zur Strecke bringt, aber einen Theaterintendanten namens Kai Hochwerth.

Ein Tyrann ist das, der vor allem die weiblichen Mitglieder seines Ensembles übergriffig unter Druck setzt. Und als er der gerade schwanger gewordenen Hauptdarstellerin seiner neuen Inszenierung von Wedekinds „Lulu“ empfiehlt, sich das in ihr entstehende Kind wegmachen zu lassen, wenn sie die Rolle haben will, da schlägt Hella zu. Mit einem Artikel. Darüber die skandalträchtige Zeile: „Intendant zwingt Schauspielerin zur Abtreibung“. Und der Skandal kommt. Jedoch mit Bumerangeffekt. Denn der Intendant nimmt sich das Leben. Und nun geht die Hatz auf Hella los.

Willkommen in der Erregungsmaschinerie von heute! Aufgeschreckt von verkaufsfördernd zugespitzten Artikeln, die dann oft nicht mal ganz gelesen werden; ausgeschlachtet und weiter verbreitet von aufgebrachten Nutzern der sozialen Medien, ist heute eine Stimmungslage entstanden, in der nach den Gesetzen der „Aufmerksamkeitsökonomie“ gnadenlos der Platz an der Sonne angesteuert wird. Da werden, um aus Schillers „Lied von der Glocke“ zu zitieren, inzwischen auch „Weiber zu Hyänen“. Sogar solche, die lange Zeit den kühlen Kopf und das gute Argument geschätzt hatten.

Antje Rávik Strubel lässt keinen Zweifel daran, dass ihre Protagonistin Hella, ihres Zeichens Feuilletonchefin einer fiktiven Berliner Tageszeitung, vom „Qualitätsjournalismus“ herkommt. Aber jetzt, wo ihre Kulturseite eingespart zu werden droht, reißt sie das Ruder rum. Setzt alles auf die Karte Emotionalisierung. Und es geht prompt schief.

Was hat sie an dieser Hella gereizt? „Jedenfalls nicht, dass sie Journalistin ist. Ich wollte keinen Roman über die Krise der Medien schreiben und schon sowieso keinen Schlüsselroman, die Figuren haben alle keine realen Vorbilder“, versichert sie. Deswegen gehe sie auch nicht sonderlich ins Detail, was den journalistischen Arbeitsalltag angehe. Sie interessiere vielmehr Hellas Hybris, die sie, wie manches Andere auch, mit dem skandalösen Theatermann Kai Hochwerth verbinde. Beide versteigen sich in einen Rausch der Macht, instrumentalisieren die Menschen ihrer Umgebung und leben in ihrer Selbstermächtigung auf gefährliche Weise an ihren wahren Gefühlen vorbei.

Zwar beschleichen Hella, als sich immer mehr Menschen von ihr abwenden und sie sogar ihre Stelle als Feuilletonchefin verliert, einige Zweifel: War es wirklich richtig, die Affären am Theater publizistisch aufzugreifen und damit einen Mann an den Pranger zu stellen, der es im Moment gerade ohnedies schwer hat, da alle Welt plötzlich Männlichkeit verdächtigt, per se toxisch zu sein?  

„Aber warum sie sich auf dieses Abenteuer überhaupt einlässt, warum sie dafür sogar ihre Prinzipien über Bord wirft, denn eigentlich steht sie auf der Seite der Männer, entwickelt keine Solidarität mit weiblichen Opfern, das bekommt Hella trotz ihrer Selbsterforschung nicht heraus. Sie gaukelt sich vielmehr bis zum Schluss hehre Gründe vor. Sie kommt einfach nicht auf die Idee, dass sie gerade beim Thema Abtreibung Witterung aufnimmt, weil sie selbst abgetrieben werden sollte.“

Strubel hat den Mut, in Hella eine ambivalente, in Teilen unsympathische und vor allem widersprüchliche Protagonistin in den Mittelpunkt zu stellen – noch etwas, das sie mit dem nun toten Theatermann verbindet. Auch Hella nimmt übrigens ein tragisches Ende, obwohl es in der Schwebe bleibt, was am Ende wirklich mit ihr passiert.

Real jedoch und durchaus einem bestimmten Ort nachempfunden ist ihr Lebensumfeld. „Und da gehen wir jetzt hin“, schlägt Antje Ravik Strubel vor. Und siehe da: Friedlicher, idyllischer könnte die Straße, die im Roman „Am Waldrand“ heißt, nicht sein. Still brüten hier die adretten Schweizer Häuser, die übrigens zum Weltkulturerbe gehören, in der Sonne vor sich hin. Dichter Baumbestand umgibt sie. Efeu und Wilder Wein, Akeleien und Kletterrosen ranken sich an ihnen empor. Kann, wer in so viel träumerischer Schönheit wohnt, sich überhaupt in unserer Zeit der harten Bandagen noch behaupten?

Schwer vorstellbar. Verwirrend! Aber verwirrt einen nicht das gesamte preußische Arkadien? War es nicht der „Kartätschenprinz“, der 1848 unbarmherzig auf die Aufständischen feuern ließ, nachdem er sich zuvor dieses fantastische Schloss Babelsberg gebaut hatte? Und wie verhielt es sich doch gleich mit dem Schöpfer von Sanssouci und vom Neuen Palais und ihres friderizianischen Rokokos? Hat der nicht bedenkenlos Schlesien überfallen, Sachsen brutal geplündert? Oder der Bauherr des letzten Schlosses, das hier entstand? Cecilienhof orientiert sich an den Landsitzen der englischen Gentry, aber Wilhelm, der ewige Kronprinz, kungelt später hemmungslos mit den Nazis.

Wer sich mit Geschichte und nun gar mit der preußendeutschen befasst, der weiß, dass sich ästhetischer Reichtum und charakterliche Ruchlosigkeit nicht ausschließen. Wie gut, dass es hin und wieder Bücher gibt, die sich auf dieses irritierende Miteinander einlassen. „Der Einfluss der Fasane“ ist so ein Buch. Antje Rávic Strubel so eine Autorin. Das Tröstliche bei alledem: Was überdauert, sind nicht Debatten und Dekonstruktionen. Es ist die Kunst.

Antje Rávik Strubel: „Der Einfluss der Fasane“. S. Fischer, 240 S., 24 Euro.

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