Das Verhältnis von Liebe und schriftlicher Kommunikation ist vertrackt. In Edmond Rostands Theaterstück „Cyrano de Bergerac“ etwa, erstmals aufgeführt im Jahr 1897, verliebt sich der wortgewandte Cyrano in seine Cousine Roxane. Weil Cyrano aber unter Minderwertigkeitskomplexen leidet und glaubt, eh keine Chance bei Roxane zu haben, unterzeichnet er seine geistreichen Briefe an sie mit dem Namen des schönen, aber geistig eher schlichten Christian. Roxane verliebt sich daraufhin in Christian und dessen vermeintlich unbändigen Geist. Erst auf dem Sterbebett gesteht Cyrano Jahre später, dass er der Ghostwriter jener Nachrichten war.

Abgang Cyrano, Auftritt Künstliche Intelligenz. Gut 130 Jahre später verfügen wir über die Technik, um mit wenigen Klicks digitale Briefe zu erzeugen, die mit dem Geist vom Schlage Cyranos durchdrungen sind. Oder ?

Online-Dating ist ja – obwohl oder gerade weil es mittlerweile zum Massen-Phänomen geworden ist – eine furchtbare Angelegenheit. Laut einer aktuellen Umfrage haben in der Altersgruppe der 16- bis 29-Jährigen bereits 61 Prozent schon mal online gedatet, bei den 30- bis 49-Jährigen sind es immerhin 44 Prozent. Doch immer öfter ist auch von emotionaler Erschöpfung zu lesen. Das ständige Gewische, das ellenlange Geschreibe mit den immer gleichen Fragen und die gefühlt immer ähnlicher werdenden Profile und Fotos. Männer auf Fahrrädern, Männer auf Gipfeln, Männer an DJ-Sets, Männer in der Kletterhalle. Frauen beim Stand-up-Paddeln, Frauen beim Wandern, Frauen im „brat girl“-Look tanzend auf Elektronik-Festivals oder in unschuldiger Taylor-Swift-Manier im Kornfeld oder auf der Blumenwiese.

Aber gerade, wo sich standardisierte Digitalexistenzen und DIN-geprüfte Lebensentwürfe tummeln, liegt der effiziente Einsatz von künstlicher Existenz nahe. Schon seit Längerem gibt es etwa Apps, die aus einem spontan aufgenommenen Allerweltsselfie binnen Sekunden ein perfektes Foto für Bewerbungen oder das Tinder-Profil erzeugen. Und beim Erwerb eines kostenpflichtigen Abos der Dating-App Bumble wertet die „Best photo“-Funktion aus, bei welchem Foto sich die meisten Menschen entscheiden, nach „rechts zu swipen“.

In meinem Bestreben, ohne viel Gedankenleistung und Schreibfleiß zum legitimen Erbe des schönen, aber recht plumpen Christian aus Edmond Rostands Theaterstück zu werden, habe ich auf Dating-Apps die Probe aufs Exempel gemacht. Das Ziel: tiefgründig wirken, ohne dabei nachdenken zu müssen.

„Ich wollte dir etwas Tiefgründiges schreiben“

Ich probiere es zunächst mit der basalsten Form des KI-gestützten Flirtens. Auf ChatGPT prompte ich „Gib mir charmante, leicht subtile und ironische Einstiegssätze, mit denen ich ein Gespräch auf einer Dating-Plattform beginnen kann“ und schicke darauf an meine Matches grenzwertige Sätze wie „Ich hab geswiped, du hast gematcht – das Schicksal hat sich wohl einen guten Tag ausgesucht.“ oder „Ich wollte dir etwas Tiefgründiges schreiben – aber dann hast du mit deinem Lächeln mein Gehirn kurzgeschlossen.“

Das Resultat: keine Antwort oder wortlose Auflösung meiner Matches. Es müssen schwerere Geschütze her. Im App-Store werde ich fündig. Dort preist sich die App RizzAi als „Geheimwaffe für geschmeidige, selbstbewusste und clevere Antworten“ an, „die tatsächlich etwas bewirken.“ Und das funktioniert so: Der User macht einen Screenshot vom Dating-Chat und lädt diesen in die App hoch. Über einen Button hat man die Auswahl, in welcher Stimmung die KI eine Nachricht verfassen soll. Zur Auswahl stehen unter anderem „charmant“, „neckisch“ und „verführerisch“. Der Algorithmus wertet daraufhin den im Screenshot angezeigten Chatverlauf aus und generiert sodann eine drei bis vier Zeilen lange Nachricht, die der Nutzer in die Dating-App übertragen kann. Daneben gibt es einen „Pickup Line Generator“, der einem formvollendete Sprüche zum Einstieg anbietet wie „Bist du Vulkanasche? Denn wenn Du in meiner Nähe bist, beginnt mein Herz in Funken auszubrechen.“

Okay, cool. In der Praxis lösen die von RizzAi erzeugten Nachrichten zwar weniger Fremdscham aus als jene von ChatGPT, die ständigen Screenshots sind aber extrem aufwendig. Chattet man mit mehreren Matches parallel, muss man zudem aufpassen, bei den winzigen Vorschau-Bilder der Foto-App nicht aus Versehen den falschen Chat in die RizzAi hochzuladen

Die App KeysAi will da noch eine Stufe weitergehen. Nach der Installation verlangt die Anwendung in den Handy-Einstellungen Vollzugriff auf die Tastatur-Funktion. Damit wird der Chatbot, der auch für Messenger wie WhatsApp oder Telegram funktioniert, unmittelbar in die jeweilige App integriert. Ich wische sämtliche Datenschutzbedenken beiseite, gewähre der App besagten Zugriff und schließe ein Monatsabo für 16,99 US-Dollar ab. Nach wenigen Minuten auf Bumble geht mir „Laura“ (Name geändert) ins Netz. Da auf Bumble Frauen den ersten „move“ machen müssen, warte ich auf ihre Nachricht, während ich weiterswipe. Dann geht es los, „Laura“ schreibt:

„Hey! Wohnst Du in Berlin oder nur zu Besuch?“

Ich drücke in der Tastaturmaske auf die Sprachwechsel-Taste (das kleine globus-artige Symbol ganz unten links). Es öffnet sich das User-Interface von KeysAi, das in mehreren Reitern verschiedene Funktionen anbietet. Herzstück der App ist die Schreib-Funktion, die selbst noch mal je nach Gesprächssituation unterteilt ist in Schaltflächen wie „Starters“ (Einstieg) , „Banter“ (Necken/Frotzeln) oder „Deepen Connection“ (Verbindung vertiefen). Dabei fällt als Erstes auf: Die „Schreiben“-Funktion ist derzeit nur auf Englisch verfügbar.

„Bist du ein rastloser Wanderer auf der Durchreise?“

Ich scrolle mich also durch die Optionen, klicke wahllos auf die Schaltfläche „Compliment“, worauf die App auf Englisch folgende Nachricht im Chat-Fenster von Bumble erzeugt: „Ich kann nicht umhin zu bemerken, wie mühelos Du die Aufmerksamkeit aller auf dich ziehst.“ Aha, denke ich, aber das passt ja gar nicht zu ihrer Einstiegsfrage. Also wähle ich den Reiter „Auto-Respond“ an, bei dem auf die Nachricht des Gegenübers Bezug genommen wird. Wie bei RizzAi verlangt die App hier, dass ich einen Screenshot von Lauras Nachricht mache und das Foto hochlade. Gesagt, getan, die Antwort kommt hier sogar in deutscher Sprache.

„Hallo, Berlin kann sich glücklich schätzen, mich ständig um sich zu haben. Und wohnst Du auch hier oder bist du ein rastloser Wanderer auf der Durchreise?“

Nach zwei Minuten antwortet „Laura“: „Ja, wohne hier.“

Unterdessen habe ich ein weiteres Match, eine „Lea“ schreibt mir „hi“. Ich „hi“-e zurück, generiere eine „Starterline“, lasse sie via „DeepL“ übersetzen und schicke ihr aus dem Nichts ein „Ich kann Dir versichern, dass Du einen exzellenten Geschmack hast in der Art, wie Du dein Outfit zusammenstellst.“ Lea trägt auf ihren Fotos Jeans und weiße Oberteile.

Zurück zu „Laura“, wo die Initiative jetzt bei mir liegt. Ich klicke auf die „Profil analysieren“-Funktion, um etwas zu schreiben, das auf Lauras Profilangaben Bezug nimmt. Nach wenigen Sekunden liefert mir die App folgende Analyse:

„Wir haben hier jemanden, der praktisch mit Sonnenenergie betrieben wird! Diese Person bläst wahrscheinlich im Winter Trübsal, umgibt sich mit Sonnenblumen und hat einen ganzen Schrank voller Flip-Flops. Diese Person ist ein echter Sonnenanbeter und könnte in einen Freudentanz ausbrechen, wenn der Sommer kommt. Hier sind drei Möglichkeiten, wie Du reagieren könntest.“

Ich entscheide mich für die letzte und schicke ihr „Es muss schwer für deine mediterrane Seele hier in Berlin sein, besonders im Winter, hm?“ Nicht gerade was für Flirt-Feinschmecker, aber solide Hausmannskost allemal.

Derweil habe ich mit „Steffi“ gematcht, die mich fragt, wie es mir geht. Ich antworte per KI mit „Bist Du eher ein spontaner Abenteurer oder ein detaillierter Planer?“ Im gleichen Augenblick schreibt mir eine „Chloe“ eine ironisch-freche Nachricht, die ich zunächst in Eigenleistung mit „haha“ beantworte und dann folgende Automaten-Nachricht in den Chat klatsche: „Ich wette, du bist die Art von Person, die bei Starbucks eine komplizierte Bestellung aufgibt, nur um dich mit dem Barista anzulegen.“ Händisch schmeiße ich noch einen Smiley mit herausgestreckter Zunge hinterher. Unterdessen hat Laura zurückgeschrieben.

„In der Tat!“, schreibt sie, und dann: „Wo ist die Sonne, es ist Winter hier“

Ich blicke vom Bildschirm auf und nach draußen, wo dichter Juli-Regen runtergeht. Mittels der Auto-Respond Funktion des Flirt-Bots lasse ich mir drei Antworten vorschlagen. Ich wähle die oberste und schicke sie ab.

„Jetzt hast Du mich gerade beim Tagträumen von wärmeren Temperaturen erwischt! Hier ist überall grauer Himmel und kalter Wind.“

„Mit einem Hauch von Sehnsucht …“

In die anderen Chats schicke ich währenddessen weiter wahllos irgendwelche Retorten-Fragen, ohne groß auf die vorangegangenen Antworten einzugehen. Laura hingegen schweigt. Ich wähle die „Analyze“-Funktion an, worauf mir die App unser bisheriges Gespräch wie folgt zusammenfasst:

„In diesem Gespräch scheint es so, als ob ihr euch über die Schwierigkeiten, die der harte Winter in Berlin mit sich bringt, anfreundet, zumal ihr beide eher an wärmere Klimazonen gewöhnt seid. Die Stimmung ist nachvollziehbar und leicht komisch mit einem Hauch von Sehnsucht nach einer tieferen Verbindung.“

Tiefere Verbindung also, aha. Ich wähle den Reiter „Verbindung vertiefen“ an und lasse mir zunächst verschiedene „Easy Ask“-Fragen wie „Was ist deine Lieblings TV-Show?“ Oder „Kaffee: Nötig, böse, oder eine der großen Vergnügen des Lebens?“ vorschlagen. Dann wechsle ich zur Option „Deep“, worauf die App mir folgende bedeutungsschwangere Frage auftischt: „Wenn Du in der Zeit zurückgehen und eine Entscheidung ändern könntest, welche wäre es und warum?“ Uff.

Ich probiere es mit „Medium“, die App spuckt also so mittel-tiefgründige Fragen aus. Ich entscheide mich für folgende Frage:

„Wenn Du das Leben mit einer berühmten Person für einen Tag tauschen könntest, wer wäre das und warum?“ Warten auf Antwort, dann, nach zwanzig Minuten:

„Puh, gute Frage, müsst ich länger überlegen, hahah“

Schweigen. Ich scrolle mich weiter durch den Flirtbot, teste Optionen wie „Süß“, „Bewegend“ oder „Spaß Fragen“, bis mir alles zu viel wird und ich mich entschließe, selbst Hand anzulegen.

„Hey, wollen wir uns einfach auf einen Espresso treffen später?“

„Joa, warum nicht? So um 6 ?“, antwortet Laura prompt.

„Ja, perfekt!“, antworte ich in Eigenregie. „Lass am Helmholtzplatz treffen, da gibts viele Cafés und so.“ Laura schickt den Daumen Hoch-Emoji. Läuft.

Nach zwei Stunden Fließband-Dating schließe ich sämtliche Anwendungen, bereichert um die Erkenntnis, dass die KI-Flirtbots von Cyrano de Bergeracs geistigen Ergüssen so weit entfernt sind wie Jeff Bezos‘ venezianische Hochzeit von einer royalen Vermählung in Westminster Abbey. Als sozial minderbemittelt erscheinende Aneinanderreihung von Plattitüden und Worthülsen können sie im besten Fall ein Gespräch mehr schlecht als recht aufrechthalten. Und sollten RizzAi oder KeysAi demnächst weite Verbreitung finden, stellt sich neben der ohnehin schon grassierenden Online-Dating-Müdigkeit die grundsätzliche Sinnfrage des Ganzen, wenn sich zukünftig nur noch zwei Chat-Bots miteinander unterhalten.

Womit auch genug Text zu dem Thema generiert wäre, denn ich muss nun auch wirklich los zum... äh Espresso trinken.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke