Teilzeitlesben, Crossdresser, Metrosexuelle, Transen, Immergeile, Dauerkeusche, Verliebte, Verrückte – dem Musiktheater war nichts Zwischenmenschliches fremd. Zumindest nicht in der Barockoper, bevor Klerus und Obrigkeit ihr für Jahrhunderte einen Moralmaulkorb verpassten.

Man weiß solches von Monteverdis „Poppea“. Und man weiß es auch von Francesco Cavalli. Dem wurde jetzt in der fünften, letzten und schönsten szenischen Premiere beim diesjährigen Festival von Aix-en-Provence gehuldigt.

Kallisto, die Nymphe der Mond- und Jagdgöttin Diana, gerät hier in einen für sie übel endenden Strudel aus Lust, Frust, Eifersucht und Rache. Jupiter verführt sie in Frauengestalt, die zornige Juno verzaubert sie später in eine Bärin, der der reuige Göttervater lediglich eine ewige Existenz als Sternenbild gewähren kann. Das lange die Oper bestimmende Thema der Metamorphose wird so aus seiner humanistisch-philosophischen Höhe auf eine niedrigere, mitunter beherzt vulgäre, trotzdem emotional anrührende Ebene transferiert.

Denn das zahlende Publikum in den venezianischen Bürgertheatern, in denen auch dieses hinreißende Werk kurz vor der Karnevalssaison 1651 uraufgeführt wurde, wollte gut und ein wenig derb unterhalten werden. Die sparsam orchestrierte Partitur, im Grunde ein nur selten melodisch weiter ausholendes Rezitativ, geizt dabei nicht mit Frechheiten und vermag dennoch gefühlvoll zu verzaubern.

Im provencalischen Cours d’Archeveché, wo die echten Kerzenflammen an holzgetäfelten Salonwänden und die Seidenstoffe der herrlichen Rokoko-Kostüme so unnachahmlich im Mistralwind flattern, herrscht freilich das strenge, eng quadrierte Glück einer englischen Sittenkomödie, die mit den „Liaisons Dangereuses“ des Choderlos de Laclos gekreuzt wurde. So fein ziseliert sich hier die subtile Personenregie von Jetske Mijnssen entfaltet und so edel es aussieht – die Bestie Mensch im feinen Gewand geht sich trotzdem beständig im Liebeswahn an die Gurgel. Und am Ende ersticht diesmal Kallisto ihren Verführer Jupiter.

Das ist genauso herrlich vokal anzuhören wie es sich ansieht – nicht nur dank des Dirigenten Sébastien Daucé mit seinem groß besetzten Ensemble Les Correspondances (in Venedig spielten nur sechs Instrumente). Aus einem makellosen Sänger-Ensemble ragen die zarte, doch kraftvolle Lauranne Oliva Kallisto mit porzellanschimmerndem Sopran hervor, ebenso, der als Macho Jupiter mit Bassfülle wie mit famosem Falsett aufwartende Alex Rosen.

Des im Mai gestorbenen Aix-Intendanten Pierre Audi wurde auf dem Festival mit einer würdigen Feierstunde gedacht. Simon Rattle wie Nina Stemme spielten und sangen Wagner, Stéphane Degout brachte sich mit Saariaho zu Gehör, Bonitatibus mit Rossini, Bénos-Dijan und Daucé schlossen mit William Webb. Zwischen allzu vielen Politikerreden erinnerten die Regisseure Claus Guth und Peter Sellars sowie Audis Witwe Marieke an dessen Fähigkeit, zuzuhören, in Menschen und ihre Möglichkeiten hineinzusehen sowie Künstlern Raum zu geben.

Was Pierre Audi wohl zur diesjährigen Aix-Uraufführung gesagt hätte? An der Aix-Außenstelle Arles gab es ein auf einer indischen Legende fußendes Musiktheater, das Peter Sellars verantworte. Es war freilich nicht mehr als statisch zweistündiger Multikulti-Ringelpiez mit Mitsing-Ragas. „The Nine Jewelled Deer“ braucht bereits eine geschlagene halbe Stunde, um nur ebendiese neun Juwelen – vom Sternrubin bis zum Tigerauge – des titelgebenden Rehs im Wald musikalisch aufzuzählen. Es geht hier irgendwie um Achtsamkeit und Schutz, um Humanismus überhaupt, eines der Hauptthemen der sich dauerumarmenden Peter-Sellars-Sekte.

Wasserschälchen und Batikbilder

Diesmal hat der amerikanische Regie-Guru zwei eindrückliche indische Sängerinnen und sechs internationale Musiker mit Geige, Cello, Saxophon, Mridangam-Trommel und Mischpult versammelt. Die sitzen hinter Wasserschälchen und vor wechselnden Batikbildern der Amerikanerin Julie Mehretu und unterhalten einander zu den mal folkloristischen, mal jazzigen Klängen der israelischen Komponistin Sival Eldar. Was herzlich wenig, dramaturgisch dünne Inhaltssauce ist. Von „Kammeroper“ keine Spur.

Dann lieber die Neubefragung eines französischen Verismus-Klassikers von 1900 nämlich der beinahe selbst in ihrem Ursprungsland aus dem Bewusstsein verschwundenen „Louise“ von Gustave Charpentier. Regisseur Christoph Loy schafft es, eine gekürzte Fassung dieser eigentlich ziemlich altmodischen Apotheose von Montmartre-Seligkeit und Jahrhundertwende-Libertinage mit der Sängerin Elsa Dreisig zu einem eindrücklichen Opernabend wiederzubeleben. Deutsche Fernsehzuschauer können sich davon bei Arte am 11. Juli überzeugen.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke