So wirklich konnte das Glastonbury seinem diesjährigen Motto dann doch nicht gerecht werden. Mit „Peace, Hope & Unity“ war das wohl wichtigste englische Musikfestival überschrieben, zur Eröffnung wurde die traditionelle „Flamme der Hoffnung“ entzündet, das Line-up verband von Neil Young über Alanis Morissette bis hin zu Olivia Rodrigo gleich mehrere Generationen von Fans und Musikern über die Bande von Rock zu Pop – nur die Sache mit dem Frieden, die ging ziemlich schief.
Das Festival machte internationale Schlagzeilen, weil das Grime-Punk-Duo Bob Vylan auf der Bühne nicht bloß die mittlerweile klassischen und weitverbreiteten „Free Palestine“-Parolen skandierte, sondern auch tausende von Zuschauern einstimmten, als man israelischen Soldaten den Tod wünschte.
Die BBC übertrug das ganze live, der Skandal war perfekt, und Glastonbury ist nun so etwas wie die englische Documenta. Dabei handelt es sich bei Weitem nicht um den einzigen Antisemitismus-Skandal in der Popmusik. Im April sorgte bereits die irische Rap-Formation Kneecap für Aufsehen, als sie auf einer Bühne eine Hisbollah-Flagge hisste.
Und dennoch ist der Skandal um Bob Vylan und Kneecap eigentlich kein Skandal um Bob Vylan oder Kneecap. Dass aufgrund der Empörung mittelklassige, über Szenekreise hinaus weder populäre noch relevante Bands für einen kurzen Moment globale Aufmerksamkeit bekommen, die von der nun absehbar einsetzenden Konzert-Cancel-Debatte nur weiter genährt wird: geschenkt. Das ist unappetitlich, aber auszuhalten.
Der wahre Skandal sind nicht die irren Aussagen einzelner, der wahre Skandal ist ein junges Publikum, das die Parolen aufgreift, tausendfach mitskandiert und die Bands für ihre Aussagen in Kommentarspalten vehement verteidigt. Nur um das noch einmal deutlich zu machen: Äußerungen, bei denen es nicht bloß um legitime Solidarität mit Menschen im Gaza-Streifen oder Kritik an der Kriegsführung Israels geht, sondern um konkret formulierte Auslöschungsfantasien gegen jüdische Menschen. Hier geht es nicht um Kunstfreiheit, sondern um Strafrecht.
Der Glastonbury-Vorfall sollte aus dieser Perspektive als Weckruf verstanden werden, er sollte uns deutlich machen, dass wir gerade in Deutschland auf einem ziemlich verlorenen Posten stehen. Unsere Vorstellung, dass Israel die einzige Demokratie im Nahen Osten ist – Bollwerk des freien Westens, ein Land, das unsere Werte und Vorstellungen teilt und verteidigt – wird von einer nachwachsenden Generation in (zu) großen Teilen nicht mehr geteilt. Aus der Perspektive dieser Generation ist Israel schlichtweg ein Feindbild, das die Popkultur festigt.
Eine radikale, linke Idee erobert die Popkultur
Wir verlieren gerade eine junge Generation an eine fehlgeleitete Ideologie, deren Antisemitismus ihre Apologeten offenbar gar nicht erkennen, eine Ideologie, die sich als akademischer Postkolonialismus tarnt. Denn die jüngste Ausprägung des Postkolonialismus stilisiert den Nahost-Konflikt zu einem Konflikt zwischen Unterdrückenden und Unterdrückten, in dem man nach linkem Selbstverständnis, unhinterfragt für die Unterdrückten Partei ergreifen müsse.
Diese Denkschule eröffnet Dynamiken, die dazu führen, dass junge Menschen die Hamas und die Hisbollah als Freiheitskämpfer missverstehen, es als legitim erachten, israelischen Soldaten den Tod zu wünschen, und in letzter Konsequenz auf TikTok plötzlich wieder Osama bin Laden als verkannten Helden verklären. Der Postkolonialismus – nicht in seiner ursprünglichen, aber in seiner neuesten Variation – ist eine krude, eine radikale Idee, die nicht bloß dem Antisemitismus Vorschub leistet, sondern am Ende auch Terrorismus legitimiert.
Die Antwort kann deshalb nicht in weiteren Scheindebatten und Konzertverboten für verblendete Künstler liegen, die Antwort muss ein aus der Popkultur selbst erwachsendes Gegennarrativ sein. Popkultur definiert sich über einen Diskursraum, der sowohl von Künstlern, Konsumenten, Journalisten als auch Teilen der Kulturindustrie bestimmt wird. Dass dieser Diskursraum in den vergangenen Jahren sehr einseitig von einer progressiven, akademischen Klientel genährt wurde (man schaue sich nur mal die Netflix und Disney-Produktionen der vergangenen Jahre an) ist genauso offensichtlich wie die nun erkennbaren Folgen.
Dass Popmusik simplifiziert und emotionalisiert, liegt in der Natur der Sache; wer fundierte Antworten auf hochkomplexe politische und gesellschaftliche Fragen im Rahmen eines Spotify-normierten Songs erwartet, hat die Funktionsweise von Pop nicht begriffen. Es gibt aber Narrative, die kollektiv erarbeitet und gestärkt werden können. Zumindest dann, wenn der popkulturelle Diskurs endlich wieder breiter geführt wird.
Und immerhin gibt es Hoffnung, dass das bald wieder passieren wird. Gesellschaftliche Bewegungen provozieren immer gesellschaftliche Gegenbewegungen. Das gilt auch für die Kulturindustrie. Auch wenn es dort immer ein wenig dauert.
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