Im Kriege selber ist das Letzte nicht der Krieg“, konstatiert Octavio Piccolomini in Friedrich Schillers „Wallenstein“. Die schnellen Taten der Gewalt seien es nicht, „die das Beglückende, das ruhig, mächtig Daurende erzeugen“. Klugheit und Weitsicht gebieten es daher, schon im Krieg das nach dem Krieg dauerhaft zu Schaffende ins Auge zu fassen. Das taten US-amerikanische Behörden während des Zweiten Weltkriegs spätestens seit 1942. Sie entwickelten Ideen für ein besseres Deutschland. Solche Ideen bräuchte es heute auch im Umgang mit Russland. Doch diese Ideen gibt es nicht.
Die (meisten) europäischen Staaten unterstützen die Ukraine militärisch in ihrem Kampf gegen den Aggressor Russland. Das allein genügt jedoch nicht. Solange in Russland Putin und seine Clique an der Macht sind, geht von ihnen eine existenzielle Bedrohung Europas aus. Auch wenn wir das in unserem geordneten Alltag nicht wahrnehmen: Unser Friede ist brüchig. Vor den Toren Europas steht eine Macht, deren Führer unsere Sicherheiten, unseren way of life zerstören will. Und die über das größte Arsenal von Atomwaffen auf der Welt verfügt. Es hängt für das Überleben der Demokratien in Europa einiges davon ab, dass es gelingt, Russland von diesem Weg abzubringen. Nur wie?
Der US-Amerikaner William J. Donovan war ein energischer, umtriebiger und politisch ambitionierter Rechtsanwalt. In einer Zeit, in der man nicht nur auf der Karriereleiter vorankommen konnte, ernannte Präsident Franklin D. Roosevelt, ein Demokrat, den katholischen Republikaner Donovan 1941 zum Leiter des „Office of the Coordinator of Information“ (COI). Die USA standen kurz vor dem Eintritt in den Krieg gegen Deutschland. Das COI, der erste zentralisierte militärische Geheimdienst der USA, sollte unter anderem der Propaganda des Hitlerregimes eine effektive psychologische Kriegsführung entgegensetzen.
Donovan kam schnell zu der naheliegenden, den amerikanischen Regierungsstellen bis dato aber fremden Überzeugung, dass es im Krieg gegen Hitlers Reich unbedingt notwendig sei, so viele Informationen über Deutschland zu beschaffen und auszuwerten wie nur irgend möglich. Dafür schuf er das „Office of Strategic Services“ (OSS), aus dem nach dem Krieg die CIA hervor-ging. Der konservative Republikaner Donovan ging dabei unideologisch vor. Er stellte zahlreiche, meist linke Wissenschaftler ein, die aus Deutschland ins Exil geflohen waren und zum Teil noch als „enemy aliens“ galten.
Linkshegelianischer Weltgeist
Donovan griff auch auf Mitarbeiter des Frankfurter Instituts für Sozialwissenschaften zurück, das seinen Sitz inzwischen in New York hatte. So wurden unter anderem der Politologie Franz Neumann, der Philosoph Max Horkheimer, der Soziologe Herbert Marcuse und der Staatsrechtler Otto Kirchheimer ab 1942 bezahlte Mitarbeit des OSS. Sie verfassten detaillierte Studien über Deutschlands Gegenwart und Geschichte. Nicht zuletzt untersuchten sie Geschichte und Struktur des NS-Staates. Zwar nahmen die Regierungsbehörden die Arbeit dieser Gesellschaftsforscher nur selektiv zur Kenntnis. Es herrschte aber, auf Roosevelts Druck hin, die historisch neue Überzeugung, man müsse schon während des Krieges über die Zeit danach nachdenken. Die „policy of postponement“, die Politik des Aufschubs auf die Nachkriegszeit, hatte ausgedient.
Das OSS war beileibe kein akademischer Zirkel. Zeitweilig beschäftigte es 2.000 Mitarbeiter, bis 1945 fertigte es etwa 3.000 zum Teil sehr umfangreiche Studien an. Man muss sich das Ganze wie eine Art kontrovers forschende und debattierende Zukunftswerkstatt vorstellen. Einer der Teilnehmer, der liberale Politikwissenschaftler John Herz, schrieb später in seinen Erinnerungen: „Es war, als hätte sich der linkshegelianische Weltgeist vorübergehend in der Mitteleuropäischen Abteilung des OSS angesiedelt.
In amerikanischen Regierungskreisen kursierten damals zwei konträre Ideen, wie mit Deutschland nach dem Krieg umzugehen sei. Die einen setzten auf Bestrafung, langjährige Besetzung und eine Politik der Deindustrialisierung. Die anderen wollten Deutschland so schnell wie möglich wirtschaftlich wieder stark machen – um es als Bollwerk gegen die Sowjetunion zu nutzen. Im OSS hatte man einen anderen Weg im Sinn. Der Diplomat John Cooper Wiley, der ebenfalls für den OSS arbeitete, schrieb 1943 in einem Memorandum an Präsident Roosevelt: „Wir können und müssen sowohl den Krieg wie den Frieden gewinnen.“ Dieser Devise folgend entwickelte das OSS seine Nachkriegspläne für Deutschland. Klar war, dass Deutschland besiegt werden musste. Gegen anfängliche Zweifel hielten die OSS-Denker die bedingungslose Niederlage für nötig. Sie plädierten aber für ein Besatzungsregime, das nicht von einem „bösen“ Volkscharakter der Deutschen ausging. Sondern von Anfang an auf die Befähigung der „verdorbenen“ Deutschen zur demokratischen Selbstregierung zielen sollte.
Eine Angststarre
Gewiss, die OSS-Ideen wurden nur unvollständig verwirklicht. Im Ergebnis aber gelang letztlich doch, was nach den NS-Verbrechen und insbesondere dem Holocaust wie ein Wunder erscheinen musste. Die Mehrheit der (West-)Deutschen fügte sich, anfangs maulend, widerstrebend und voll antiwestlicher Ressentiments, dem neuen Regiment. Und sie fasste in der Demokratie Fuß. Die amerikanische Botschaft war ziemlich attraktiv: vom Kaugummi und den Nylonstrümpfen bis zu den Verheißungen von Freiheit, Ungezwungenheit und Demokratie.
Seitdem sind mehr als 80 Jahre vergangen. Nach den vielen inzwischen gemachten Erfahrungen mit Diktaturen und ihrem Verschwinden sollte man an-nehmen, dass wir es heute besser verstehen, Staaten und Gesellschaften den Weg ins Offene zu erleichtern, die im eisernen Griff von Gewaltherrschern gefangen sind. Doch leider ist das nicht der Fall. Niemand scheint in den Demokratien Europas aber darüber nachzudenken, wie das Verhältnis zu Russland nach dem Ukraine-Krieg aussehen könnte. Buchstäblich tabula rasa.
Gründe dafür sind leicht auszumachen. Anders als Deutschland 1943 ist Russland 2025 nicht am Verlieren. Auch sind die Staaten der EU, anders als die USA ab 1941, nicht direkte Kriegspartei – woraus viele den Schluss ziehen werden, wir hätten kein Mandat, uns in die Zukunft Russlands einzumischen. In allen Überlegungen der „Friedensfreunde“ ist Russland ebenso eine riesige Leerstelle wie bei fast allen Politikern und Intellektuellen, die entschieden für die militärische Unterstützung der Ukraine eintreten. Da ist vermutlich Angst am Werk, eine Angststarre. Russland gilt als ein Riesenreich, das sich nun einmal unseren Maßstäben und Regeln entziehe. Daher schreckt man schon vor dem Gedanken zurück, Einfluss auf Russland zu nehmen. Das kommt einer intellektuellen und politischen Kapitulation nahe. Denn so würde das russische – sehr heterogene – Volk zu einer starren östlichen Spezies erklärt, die für liberale Ideen unempfänglich sei. Damit verriete man nicht nur den Universalismus. Sondern auch die Russen, die Besseres verdient haben als einen anachronistischen Alleinherrscher.
Es wäre vielmehr dringend geboten, dass sich Europa „in die inneren Angelegenheiten Russlands“ einmischt. Nicht mit Waffen, sondern mit Geist und mit Angeboten. Gewiss, das russische Volk ist entmündigt, steht noch immer in der langen Tradition des spezifisch russischen, besonders brutalen Herr-Knecht-Denkens. Man säße aber der archaischen Geschichtsphilosophie Putins auf, würde man die Russen zu einer Ost-Spezies erklären, die immun gegen Aufklärung, Rechtsstaat und Demokratie ist. Seit Jahrhunderten pendelt Russland zwischen Ost und West. Da ist nichts endgültig, nichts entschieden. Ohne Zweifel gab es nach 1989 in Russland eine große Offenheit gegenüber dem Westen. In 20 Jahren gelang es Putin aber, das Pendel schwungvoll wieder in die alte antiwestliche Richtung ausschlagen zu lassen.
Das Risiko ist hoch
Doch dabei muss es nicht bleiben. Die EU hält sich viel darauf zugute, ein friedlicher, freiwilliger Zusammenschluss zu sein, der allen Staaten gegenüber offen ist, die Interesse an einem Beitritt haben und bestimmte Kriterien erfüllen. Warum nicht auch gegenüber Russland? Nicht mit Panzern, wohl aber mit Ideen könnte und sollte die EU die Grenzen Russlands überschreiten. Einen solchen Vorschlag hat der russische Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe Wladislaw Inozemtsew entwickelt, der heute das in Zypern angesiedelte „Center for Analysis und Strategies in Europe“ leitet. Die Russen, schreibt Inotzemtsew, sind heute desillusioniert. Putins imperiale Inszenierungen können sie nicht mehr darüber hinwegtäuschen, dass es ihnen schlechter geht als vor zwei Jahrzehnten: wirtschaftliche Misere, politische Entrechtung, beschnittene Reisefreiheit. Inotzemtsew argumentiert nicht idealistisch, sondern materialistisch. Die Russen wollen Wohlstand und Entwicklung, und sie wissen, dass beides ohne Frieden nicht möglich ist. Die EU, so der Autor, täte gut daran, gewissermaßen über die Köpfe der herrschenden Clique hinweg ein Angebot an Russland zu machen: langfristige Assoziierung an die EU und ihre Chancen. Die Bedingung: ein Ende des Ukraine-Krieges und die Überstellung Putins und einer Reihe anderer Staatsverbrecher an die internationale Justiz. Inotzemtsew: „Eine einzige offizielle Erklärung zur Bereitschaft der EU, Russland in ihre Reihen aufzunehmen, könnte der russischen Bevölkerung eine neue Vision ihrer historischen Perspektive geben.“
Der Vorschlag ist nicht so utopisch, wie er klingt. Denn hier geht die Idee des friedlichen Zusammenschlusses von Staaten mit den Interessen der russischen Bevölkerung an einem besseren Leben Hand in Hand. So war es ja auch bei der europäischen Einigung: erst die wirtschaftlich motivierte Montanunion, dann der politische Überbau. Das brauchte Zeit, im Falle Russlands wird es sie erst recht brauchen. Aber schon das pure Signal könnte in Russland auf offene Ohren treffen. Es genügt nicht, Russland seiner barbarischen Kriegsführung wegen an den Pranger zu stellen. Man sollte Russland und die Russen mit attraktiven Angeboten zum Eintritt in die Vertrags- und Freihandelswelt der EU bombardieren. Eine wie auch immer um Russland erweiterte EU wäre zudem ein weitaus mächtigerer internationaler Player als sie es heute ist. Und schließlich: Der „verweichlichte“ Westen würde damit eine größere Stärke an den Tag legen als die waffenstarrende russische Oligarchie.
Die vielen Klagelieder, die Schriftsteller wie Viktor Jerofejew über die politische Misere Russlands anstimmen, führen nicht weiter. Nach dem, was die Deutschen in der NS-Zeit angerichtet hatten, hätte es für die alliierten Besatzer gute Gründe gegeben, die Deutschen dauerhaft unter politische Quarantäne zu stellen. Dass sie es nicht getan haben, war nicht nur großherzig. Es war eine riskante, aber politisch die einzig richtige Entscheidung, den Deutschen die Fähigkeit zum Wandel zuzutrauen. Das sollte heute auch für Russland gelten. Das Risiko ist hoch, es könnte sich aber lohnen.
Am 23. Dezember 1941, die USA waren gerade in den Weltkrieg eingetreten, schrieb Franz Neumann, Mitarbeiter des OSS, das Vorwort zu „Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus“. Das Buch ist die erste umfassende Untersuchung über das nationalsozialistische Herrschaftssystem. Neumann schreibt, die vollständige militärische Niederlage Deutschland sei unumgänglich. Und er fährt fort: „Aber das genügt nicht. Der Krieg muss durch die Trennung der großen Masse des Volks vom Nationalsozialismus verkürzt werden. Dies ist die Aufgabe der psychologischen Kriegführung, die nicht von der Innen- und Außenpolitik der Gegner Deutschlands zu trennen ist. Psychologische Kriegsführung ist nicht Propaganda; sie ist Politik. Sie besteht darin, dem deutschen Volk zu beweisen, dass militärische Überlegenheit durch eine Demokratie errungen werden kann, die keinen Anspruch auf Vollkommenheit erhebt, sondern vielmehr ihre Mängel eingesteht und nicht vor der langwierigen und mühsamen Aufgabe zurückschreckt, sie zu überwinden.“ Diesen Beweis gilt es heute im Blick auf Russland und die Russen erneut zu erbringen.
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