Ein Stern hängt rechts an der Tür. Sanft von Efeu überwuchert. Er hängt da seit 2016. Der Guide Michelin hat ihn 2016 an Max Strohe vergeben. Und an das Tulus Lotrek, das Lokal, das Strohe mit Ilona Scholl 2015 erfunden hat.

Wir sind im Westen von Berlin. Max Strohe, der nie bei einem Sternekoch in die Lehre gegangen ist, ist auch da. Und Ilona Scholl. Und Sophie Passmann, die Strohes Partnerin, Podcasterin, Schauspielerin, Moderatorin, ist. Und so viele Journalisten, dass es im Tulus Lotrek auch dampfen würde, wenn es gerade nicht so schwül wäre.

Es ist einiges anders an diesem Abend im Tulus Lotrek. Er gilt einem anderen Star, von dem alle hier wissen, dass er nichts lieber hätte als einen Stern und mit Max Strohe nicht einmal eine entfernte Ähnlichkeit hat. Carmen „Carmy“ Berzatto heißt der Mann. „The Bear“ heißt die Serie, die seit 2022 in bisher drei Staffeln davon handelt, wie der Mann mit dem wuscheligen Haar, dem weißen T-Shirt aus dem schwäbischen Albstadt und dem alterslosen Gesicht, mit dem er wie ein Parsifal mit Kochtrauma in die Welt guckt, wie dieser Mann aus dem Sandwich-Laden seiner Eltern versucht, eine Art Tulus Lotrek von Chicago zu machen.

Disney hat Strohes extrem gemütliches Zweiraum-Restaurant besetzt (das wiederum nicht mal eine entfernte Ähnlichkeit mit Berzattos „Bear“ hat, schon gar nicht in der Küche). „The Bear“-Banner hängen herum, Bilder von „Bear“-Figuren zieren die Wände, das Personal trägt „The Bear“-Schürzen.

Auf Bildschirmen flimmern Standbilder – Jeremy Allen White, wie er – der Carmy ist in „The Bear“ – mit dem Kopf an seinem Panikroom lehnt, Ayo Edebiri – die Sydney ist, Carmys Protegé – und Ebon Moss-Bachrach – der Richie ist, der Service-Chef, mit dem sich Carmy in beinahe jeder Sekunde, in der sie auf einem Bildschirm zu sehen sind, in die Haare kriegt.

Zwei Folgen der neuen Staffel werden vorab gezeigt. Strohe hat ein Menü entworfen, das sechs Gänge hat, die vor und zwischen den neuen Geschichten aus Carmys Geschmackslabor aufgetragen werden. Vorher gehen noch Austern herum und Tartelettes mit Kaisergranat und Jalapeno-Mayonnaise.

Max Strohe, inzwischen einer der bekanntesten deutschen Fernsehköche, Dauerduellant von Tim Mälzer, wird nicht müde vom Realismus zu schwärmen, der Christopher Storers Vierzig-Folgen-Geschichte auszeichnet. Davon, dass keine der gefühlt tausend Reality-Kochserien so präzise zeigt, wie es ist.

Dass Kochen auf höchsten Niveau tatsächlich Krieg ist und wirtschaftlich auch in Post-Pandemie-Zeiten einigermaßen unsinnig. Dass all die Kriege, die man führt – gegen sich selbst, gegen die Kritik, die Bank, die Tücken des Objekts und immer wieder gegen die Zeit –, zusammenschweißen und die Tatsache, so nah am Prekariat gebaut zu sein wie zumindest das Tulus-Lotrek-Team am Anfang, als sie noch – erzählt Strohe – auf Mülltonnen in der Küche saßen und Kochbücher lasen und auf Gäste warteten. Spitzengastronomie ist eine Geschichtenküche.

Die von Carmy – die inzwischen zwei Dutzend Emmys eingefahren und beinahe sämtliche der vorher unbekannten Protagonisten berühmt gemacht hat – hätte es vielleicht nicht gegeben, wenn er statt Kochbüchern von Anthony Bourdain, dem großen Koch und großen Gastro-Kritiker, von René Redzepi, dem Kopenhagener Kochgenie, oder Ferran Adrià, dem Gott der Molekularküche, Thomas Wolfes „You can‘t go home again“ gelesen hätte. Hat er aber nicht.

Er kehrt nach einer Grand Tour durch die Spitzenküchen zwischen New York und Kopenhagen zurück nach Downtown-Chicago, weil er nicht anderes zu können glaubt. Sein Bruder Mikey hat Selbstmord begangen. Das hat was mit ihm gemacht, wie all die anderen Geschichten, die er auf dem Kreuzweg, der seine Ausbildung auch war, etwas mit ihm gemacht haben.

Storer erzählt von ihnen und von Mikey und überhaupt von Carmys Leben vor dem „Bear“ in manchmal wilden, von Schwarzblenden unterbrochenen Flashback-Folgen. Carmy randaliert im Kühlhaus seines Innern ständig mit ihnen und gegen sich selbst herum. Mikey aber ist der eigentliche Bär im Weltinnenraum des Carmy Berzatto.

Menschen glücklich machen

Und mit Mikey geht es jetzt wieder los. Und mit dem Ethos, das auch Max Strohe umtreibt. Das man braucht, wenn man so etwas völlig Verrücktes und vielleicht Unsinniges wie Sterneküche betreiben will. Carmy rührt in einer roten Soße. Mikey schaut zu. Ein Restaurant will Carmy eröffnen, sich um Menschen kümmern, Menschen glücklich machen, dafür sorgen, dass sie sich weniger einsam fühlen.

In der Gegenwart der vierten Staffel ist von diesem Traum nicht mehr viel übrig geblieben. Carmy hat das „Original Beef of Chicagotown“ gegen alle Widerstände von weitgehend reinem Streetfood allmählich auf Spitzenküche getrimmt (1. Staffel), hat gegen alle Widerstände das „The Bear“ eröffnet (2. Staffel), wartet auf eine Gastrokritik in der Tribune, mit der ihm und Richie und Sydney und Natalie, der Schwester, die sich um die Zahlen kümmert, der Durchbruch gelingen soll auf dem Weg zum ersten Michelin-Stern.

An diesem Cliff, Carmy starrt auf sein Handy, die Kritik flackert auf, war „The Bear“ hängen geblieben. Und man fragte sich selbst als Mensch, der sich – das ist das Wunder dieser Serie – von den ersten paar Minuten an als Teil der Bear-Family fühlte, ob das noch lange gut gehen kann mit den Berzattos. Der rote Faden der dritten Staffel war schon zu fein, um die zehn Folgen wirklich so zusammenzuhalten wie Garn eine Roulade. Und das Personal machte den Eindruck, doch ein bisschen sehr lange im eigenen Saft gekocht worden zu sein, was einer Bolognese hilft, „The Bear“ aber allmählich anfing zu schaden.

Dass es in der vierten Staffel weniger um den Stern geht, von dem Carmy lange glaubte, dass er ihn von allen Traumata, von aller Schuld, die er fühlt, erlöst, macht die erste Folge ziemlich klar. Storers neue Story handelt auf der Oberfläche von Zeit, von 1440 Stunden genauer gesagt, die Carmy und Sydney und dem „Bear“ nach einem Ultimatum vom „Onkel“, dem Geldgeber, bleiben, um in die schwarzen Zahlen zu kommen. Eine Uhr wird aufgestellt. Es bleibt nicht die einzige. Jeder in der Küche vom „Bear“, die in ihrer aseptischen Coolness nichts mehr mit dem „Beef“ zu tun hat, bekommt eine. Drei Minuten bleiben für jeden Gang.

Jede Sekunde zählt, war schon immer das Motto im „Bear“ (und ist es, sagt Max Strohe, auch in der wahren Welt der Spitzenküche). Jetzt beschleunigt Storer noch einmal alles und führt vor, das ist nun endlich der rote Faden, was es, was die Murmeltiertage im Hamsterrad des Kochbetriebs mit Carmy machen.

Der Eismeer-Saibling kommt, dann der Rehrücken. Alles eindeutig aus mehr Komponenten entstanden, als es sich Carmy im „The Bear“ leisten kann. Da wird Schmalhans allmählich Küchenmeister. Hier explodiert jeder der Gänge nachhaltig am Gaumen. Und es gibt Geschichten. Den Rotwein, wird erzählt, hätte es vielleicht gar nicht gegeben, wäre nicht ein Rallyefahrer an einem vergessenen Wingert vorbeigekommen und hätte sich spontan verliebt in die alten Reben. Dem versengten Lauch, erzählt Ilona Scholl, wurde in der Küche Unsagbares angetan, dafür sieht er im Teich einer tiefgrünen Sauce aber ziemlich tofte aus.

Aus Personal wurde „Family“

Max Strohe erzählt davon, was diese popkulturell möglicherweise folgenreichste aller jüngeren Serien in der Küche verändert hat. Dass es geradezu eine Explosion von Tattoos auf den Händen und Armen der Köche gab. Dass Englisch beim hektischen Navigieren durch die engen Gänge zwischen den Herden das Französische abgelöst hat, alle plötzlich „Behind“ riefen und „Corner“ und „Walking“, und „Oui, Chef“ aus der Mode kam. Alles Personal auf einmal „Family“ wurde. Und dass endlich offen über Überforderung geredet werden konnte.

Was Carmy prompt tut in der zweiten Folge. Die ist, wie aufeinanderfolgende Episoden bei „The Bear“ gern sind, im Tempo das genaue Gegenteil der vorigen. Die eine schneidet einem im Gewalttempo, laut und hart, wie Carmys Yoshimi-Echizen-Messer durch alle Sinne. Die nächste ist das Pflaster für die Wunde. Das kann auch eine leise Seelensinfonie aus durcheinandergleitenden, fast dialoglosen, melancholischen Rückblenden sein, wie die erste Folge der dritten Staffel.

Überhaupt könnte man „The Bear“ auf jeder Filmhochschule als Werkzeugkasten vorstellen für die Mittel und Möglichkeiten, wie man die Spielzonen des Serienerzählens erweitert. Selten waren Gesichter so schonungslos groß und still auf dem Bildschirm und erzählten so viel. Selten sah man mehr Hände und ihre Arbeit.

Carmy fährt fort mit seinen Selbstbezichtigungen, öffnet sich, wie er das in den gut anderthalb Tagen, die man bis dahin mit ihm verbracht hat, nie getan hat. Man macht sich richtig Sorgen und braucht noch ein bisschen Wein.

Seine Schwester tröstet ihn, dass es schon in Ordnung sei, wenn er seine Liebe verlöre. Hauptsache sei doch, dass er lieben könne. Und dann betet Carmy. Dass ihm der „Bear“ bleibt, weil es das Einzige ist, was ihn ans Leben bindet.

Anthony Bourdain fällt einem da ein, dessen Porträt im „Bear“ an der Wand hing. Und der sich völlig ausgebrannt vor sieben Jahren in Südfrankreich das Leben nahm. „Ich hasse meinen Job“, war eine seiner letzten Textnachrichten.

Man macht sich noch mehr Sorgen. Und geht nach Hause. Am Ausgang bekommt man eine gewaltige Pfeffermühle in die Hand gedrückt. Es geht auf Mitternacht zu. Keine gefährliche Gegend eigentlich, die ums Tulus Lotrek. Aber selbst wenn, man wäre bewaffnet. Und irgendwie freut man sich auf den Rest der Geschichte des Carmy Berzatto. Und dass er und die Serie dann in Frieden ruhen möge.

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