Es gibt ein geradezu ikonisches Bild für die Gefahren der vielleicht unsinnigsten und irrsinnigsten und faszinierendsten aller Sportarten. Es stammt aus dem Jahr 1990. In Jerez de la Frontera wird der spanische Formel-1-Grand-Prix veranstaltet. Es ist Qualifying. Ayrton Senna, das vielleicht größte Rennfahrergenie aller Zeiten, ist gerade auf seiner schnellsten Runde. Und der nordirische Lotus-Pilot Martin Donnelly – 26 Jahre alt, talentiert, schnell. Er hätte Weltmeister werden können später mal vielleicht. Hätte nicht ein Mechaniker vergessen, die Vorderradaufhängung zu überprüfen. Der Wagen fährt geradeaus in einer Kurve. Der gelbe Lotus bricht auseinander. Donnelly fliegt samt seinem Sitz in die Luft. Und liegt auf dem Bild mitten auf der Piste, leblos, den Kopf auf dem Asphalt, das linke Bein grotesk abgewinkelt.
Das Bild gibt es in einem Alptraum, der Sonny Hayes regelmäßig heimsucht. Da rast er mit Ayrton Senna um die Wette. Die Farben, in denen er träumt, sind entsättigt. Hayes überholt Senna, fährt geradeaus, liegt auf dem Asphalt. Sonny Hayes ist Martin Donnellys Spiegelung in „F1“, Joseph Kosinskis zweieinhalbstündigem Rennwagen-Drama aus dem Auge des gigantischen globalen Zirkus im Kreis rasender Boliden. Man sollte allerdings, das vorab, wie man über vieles in diesem Film nicht nachdenken sollte (wozu man zugegebenermaßen auch eher nicht kommt), nicht über die Chronologie nachdenken. Darüber, ob es wirklich realistisch ist, dass einer, der vor 35 Jahren verunfallte, in einem Alter, in dem Kriminalkommissare längst in Rente sind, noch einmal in ein 350 Stundenkilometer schnelles Auto einsteigen. Was Sonny Hayes tut in Kosinskis filmischer Raserei.
Aber jetzt haben wir uns beinahe schon selbst überrundet. Das geht schnell bei „F1“, er ist der schnellste Film des Jahres. Vielleicht fangen wir langsam mit der Geschichte an. Die ist überschaubar. Der Kurs, den Kosinskis Film nimmt, ist nämlich nicht die alte Nordschleife des Nürburgring. Er gleicht eher dem Basisbaukasten einer Carrera-Bahn. Die alte Geschichte vom alten Mann, der immer noch einen Traum hat, immer noch einen letzten Coup starten, einen Sieg feiern will. Noch einmal die alten Sachen anziehen, Ritterrüstung, Pistolenholster, Rennanzug – egal eigentlich. Noch eine Heldenreise.
Sonny wohnt in einem Van, hält sich mäßig fit, hält sein Gesicht ins Eiswasser statt Espresso. Spielt süchtig, fährt süchtig, wo immer Fahrer gebraucht werden. Da steht eines Tages sein alter Kumpel und Konkurrent Ruben neben ihm. Dem gehört das schlechteste Team der Saison (gegenwärtig in der wahren F1-Welt mit Abstand Alpine), er braucht Siege und einen Fahrer, der sich als Mentor seines Jungspunts von Starfahrer annimmt. Von ungefähr da an hätte jeder, der in den vergangenen Jahrzehnten unter keiner Kino-Allergie gelitten und zumindest die Netflix-Doku „Drive to survive“ gesehen hat, das Drehbuch für „F1“ selbst schreiben können.
Divers wie keine Rennserie
Hayes kommt, fährt, zerlegt das Auto, zerlegt das Team, kracht mit Joshua Pearce zusammen, dem Jungspund und potenziellen Nachfolger des siebenfachen F1-Weltmeisters Lewis Hamilton, erst neben der Piste, dann auf ihr. Dann wird alles gut. Eine Liebesgeschichte findet statt. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann rasen sie noch heute die Eau Rouge in Spa-Francorchamps hoch, die tödlichste aller gegenwärtigen Rennkurven.
Das alles ist ungefähr so flach, wie der Unterboden eines Boliden es aus aerodynamischen Gründen sein sollte. Es ist unsinnig, irrsinnig und – naja, dann doch – faszinierend. Kosinskis Geschichte, die dritte Ableitung seines Plots für „Top Gun – Maverick“, ist zwar nicht viel mehr als das Vehikel für Bilder und Rennsequenzen, die aber sind schon ziemlich grandios. Manchmal wundert man sich, wie die Kraftfahrzeuge von Hayes und Pearce (zu F1-Maschinen hochgerüstete Mercedes-F2-Renner übrigens) überhaupt vom Fleck kamen, so derart viele Kameras müssen sie mit sich geschleppt haben – man sieht Bilder von oben und unten, den Füßen auf den Pedalen, von oben und unten, durch den Rückspiegel, auf die Instrumententafel, von oben und unten, auf die Reifen. Es geht alles wahnsinnig schnell. Das wird Schule machen, so wird demnächst jede Übertragung der echten Rennen mit Max Verstappen, Lando Norris, Oscar Piastri und Charles Leclerc aus Monza, Monaco oder Melbourne aussehen müssen.
Sonst hätte „F1“ sein Saisonziel so verfehlt, wie Ruben das seine ohne Hilfe von Sonny Hayes verfehlt hätte. Das Ziel von „F1“ war – so Produzent Jerry Bruckheimer – den Formel-Sport so groß zu zeigen, wie er ist. Oder noch größer zu machen. Und – so Formel-1-Chef Stefano Domenicali, der in „F1“ herumläuft wie Max Verstappen und Lewis Hamilton, wie Toto Wolff, der Mercedes-Teamchef, und diverse Rennjournalisten – der Rennserie neue Märkte zu erschließen.
Zwei Jahre lang durfte Kosinskis Team bei den Rennen dabei sein. Lewis Hamilton – der darauf geachtet haben soll, dass „F1“ so divers wird, wie es seine Rennserie vielleicht gar nicht ist – hat Türen geöffnet (und das Schlimmste im Plot wahrscheinlich verhindert). APX bekam als elftes Team einen Platz im Fahrerlager. Der APX-Container stand zwischen Mercedes und Ferrari. In den Rennpausen rasten Kosinskis Renner über die Pisten. Immer wieder sah man in den F1-Übertragungen Menschen aus dem „F1“-Cast in der Boxengasse. Brad Pitt, der Sonny Hayes ist in „F1“, streunte durchs Bild, klatschte Lewis Hamilton ab und Max Verstappen. „F1“ sollte so authentisch aussehen wie irgend möglich. Einen Aufklärungsfilm, der irgendeine Haltung zur Stefano Domenicalis Unternehmen entwickelt, sollte allerdings niemand erwarten. „F1“ ist ein Verklärungsfilm.
Und natürlich ein Märchen. Es ist völliger Blödsinn, aus einem Hinterbänkler- binnen zweier Monate ein potenzielles Gewinnerteam zu machen. Es ist völliger Blödsinn, dass sich zwei notorisch egozentrische Fahrerdiven als Team zusammentun, die fahren wie gegenwärtig Oscar Piastri und Lando Norris bei McLaren dem jeweils andern – ein bisschen Empirie schadet nie – lieber die letzte Schraube aus dem Chassis, als den Konkurrenten gewinnen zu lassen. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Brad Pitt, der einer der Motoren für die ziemlich langwierige Vorbereitung von „F1“ war und ungefähr so viele mimische Möglichkeiten hat wie Autos Räder an jeder Ecke, macht, was er am Besten kann – cool sein (gegen Steve McQueen in „Le Mans“ hat er allerdings so wenig Chancen wie Niko Hülkenberg gegen Oscar Piastri). Hans Zimmer – wie bei „Top Gun“ für den Score zuständig – lässt das Orchester machen, was Hans Zimmer das Orchester immer machen lässt. Das röhrt – wenn es nicht gerade aus den Motoren dröhnt und Reifen quietschen und Bauteile gegen Bauteile scheppern oder Benzintanks explodieren – mit den Rennwagen um die Wette. Und singt Hymnen über Hymnen und ist angemessen kitschig. Zimmer ist der Chefvergolder des internationalen Kinos. Hin und wieder dürfen – zum Jokus süchtiger Boliden-Aficionados – echte Formel-Granden, die Renn-Amateure niemals erkennen werden, was sagen.
Es gibt eigentlich nur einen triftigen Grund, sich an die Strecke zu setzen. Und das ist Kerry Conlon. Die darf – da hatte wohl Lewis Hamilton seine Finger im Spiel – die erste Frau sein, die es (wozu es eine Frau in der echten Formel 1 nie gebracht hat) zum technischen Direktor in einem Formel-1-Team gebracht hat, den Renner aufgebaut, entwickelt ihn weiter, lässt sich von Sonny nicht die Butter vom Pneu nehmen. Und endet dann doch in einer Liebesgeschichte, die so durchschnittlich ist wie ein VW Golf – eine Ressourcenverschwendung, als würde man Max Verstappen in einen Haas setzen.
Die nicht nur für Rennfahrskeptiker durchaus wichtige Frage danach, warum man das eigentlich tut, mit einem doch ziemlich hässlichen Wagen, sechs Zylindern und 15.000 Umdrehungen sich um die Wette in lebensgefährliche Kurven zu schmeißen und Geraden herunterzurasen, sein Leben zu riskieren, wird schon beantwortet. Es hat mit Momenten der Schwerelosigkeiten zu tun, sagt Sonny. Mit jenem Gefühl vom Fliegen, von dem jeder Rennfahrer träumt. Und das hat Hayes einmal in Abu Dhabi erreicht. Kosinskis Film allerdings nie.
Martin Donnelly, der ein knappes Jahr älter ist als Brad Pitt, fährt übrigens immer noch Rennen. Schuhe mit harter Sohle kann er seit dem Unfall in Jerez keine tragen. Das linke Bein ist ziemlich taub. Hin und wieder muss der Knochen abgeschliffen werden. Drei Jahre nach seinem Unfall in Jerez hat er noch einmal in einem Formel-1-Wagen gesessen. In einem Jordan. Hätte was werden können. Als er es nicht schaffte, in fünf Sekunden den Wagen wieder zu verlassen, war seine Formel-Karriere vorbei.
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