Eine Filmvorführung in der Oper von Oslo. Und beim Nachgespräch mit dem Regisseur, da steht eine ältere Dame im Publikum auf und sagt: „Das ist der glücklichste Tag meines Lebens. Und wenn Ingmar Bergman jetzt hier gewesen wäre, er hätte das geliebt.“ Die Frau ist Schauspiellegende Liv Ullmann, 86 Jahre alt und extra aus Stockholm gekommen.
Der Regisseur ist eigentlich als Choreograf weltbekannt – Jiří Kylián, 78 Jahre. Und der freut sich jetzt wie ein Kind: „Sie ist meine Göttin“, flüstert er später ergriffen.
Es gibt keinen besonderen Anlass, außer dass es bei ihm immer einen gibt: Das Norwegian National Ballet ehrt mit einem Festival diesen längst zum Weltbürger der Kunst gewordenen tschechischen Tanzschöpfer, der sich in erster Linie als Prager versteht, der in Deutschland heranreifte, eine deutsche Frau heiratete, sieben Sprachen spricht, 120 Werke schuf, von den Niederlanden aus berühmt wurde und dort immer noch lebt: „In Schevenigen am Meer, da höre ich in den Sirenen der Schiffe die Welt resonieren.“
Tanzstücke kreiert Jiří Kylián schon länger keine mehr, mal abgesehen von sympathischen Gelegenheitsarbeiten wie seine drei Studien für 16 Tänzer. Zuletzt schuf er als Dankeschön für seine Aufnahme in die französische Académie des Beaux-Arts 2019 „Inauguration“ für seine Frau Sabine Kupferberg.
Damals konnte er sich auch einen eigens designten Degen anpassen lassen. Der trägt als Griff eine Kopie der ältesten bekanntesten Figur einer Tanzenden, die er – er liebt Engel – mit Flügeln versehen hat, die er von einem toten Vogel abnahm, den er am Strand gefunden hatte: „Ich bin ein Jäger und Sammler, lasse mich gern vom Zufall treiben“, sagt er bei einem Kaffee im lichtdurchfluteten Foyer der ikonischen Oper in Oslo.
Auch Kjetil Trædal Thorsen, dessen Architekturfirma Snøhetta die Osloer Oper entwarf, ist ein großer Fan von ihm. Und so hat er, der mit Kylián auch öffentlich diskutiert, eine Ausnahme gemacht, indem dieser auf Zeit eine Installation an der sonst sakrosankten Fassade installieren durfte. Dort scheinen acht nackte, vom lebenden Original kopierte Körper von Kyliáns Lieblingstänzern auf zauberhafte Weise durch das Glas zu schwimmen. Im sich brechenden Fjord-Sonnenlicht bewundern die vielen Besucher auf dem berühmten Marmordach der Oper die Installation „Movin still“. „Der Flug zwischen zwei Seinsarten“, kommentiert Kylián. „Zwischen Leben und Tod.“ Und innen spielt dazu kein Geringerer als der Jazztrompeter Nils Petter Molvær seine einsamen Impro-Schleifen.
„Wings of Times“, so nannte sich beziehungsreich das so kompakte wie vielfältige Kylián-Festival, das die Nationalballettchefin Ingrid Lorentzen kuratiert hat. Der schlank gebliebene, federleicht in seiner Lederjacke daherschreitende Jiří Kylián sagt, das Festival mache ihn „zu einem sehr glücklichen Jungen“. Zu sehen waren Kunstfilme und Installationen.
Kyliáns Stücke selbst drehen sich ständig um Zeit und Raum. Beide bleiben nie stehen. Der Meister sagt: „Nach einer Sekunde kreativen Tanzes sind wir schon eine Ewigkeit weiter und können diesen Moment nicht mehr einfangen.“ Und so schreitet man Backstage, denn Kylián wollte unbedingt auch das Opernhaus für das Publikum öffnen, um drei weitere, von ihm gestaltete Räume zu zeigen. Da gibt es einen lang gestreckten, hellen Zerrspiegelkorridor. Der wiederum verbindet ein großes Studio, wo zu Arvo Pärts (der dieses Jahr 90 wird) „Spiegel im Spiegel“ von oben zu betrachtende Lichtschneisen über einen blauschwarzen Boden ziehen. Im Dunkel leuchten Monitore und Fotoplatten, die Kyliáns Frau zeigen. Die schaut mal erstaunt, mal intensiv, mal zweifelnd, immer sehr expressiv, hat einen Apfel in der Hand, blickt auf ein Sandlabyrinth.
„Die Biene wird nie Ballerina, das hat schon John Cranko gesagt, aber man hat Sabine doch erst in den Niederlanden engagiert, und dann notgedrungen auch mich, ihren verrückten, sich irgendwie in Bewegung ausdrückenden Freund dazugeholt“, lacht Jiří Kylián, der sich so herrlich darüber freuen kann, dass er in der Stadt in einem Restaurant John Cleese getroffen hat, die Monty-Python-Legende. „Ich ging zu ihm und sagte, ,Dr. Livingston, I presume‘. Und er meinte, ,yes‘. Und dann sage ich zu ihm, ,Wissen Sie was, ich bin ein Choreograf, und ich war inspiriert von Ihrem Ministry of Silly Walks‘. Und er sagte nur: ,Of course‘. Ich muss das erzählen, denn manchmal bin ich ein kleiner Angeber.“
Mit einem Stipendium nach London
Doch erst mal war Jiří Kylián nur ein kleiner, 1947 in Prag geborener Tanzschüler, der mit einem Stipendium nach London gekommen war. Dort fiel er dem bereits in Stuttgart engagierten Choreografen John Cranko auf, der ihm ein Engagement in Schwaben anbot. „Ich fuhr damals in die vermeintlichen Ferien nach Hause. Und eine Woche später standen in Prag russische Panzer auf der Straße. Ich aber hatte meinen Pass, der dem Innenministerium gehörte, ein noch gültiges Visum und einen Arbeitsvertrag in der Tasche und flüchtete, quasi als Emigrant-de-Luxe, nach Stuttgart. Ob das – nach Prag und London – ein kriegszerstörtes Städtchen in Deutschland war, zählte überhaupt nicht. Ich hatte meine Freiheit und wurde dort Teil einer Vision, traf meine Frau und später berühmte Kollegen. Ich war in einem der ersten Stücke von John Neumeier und in meinem Debüt hat William Forsythe mitgetanzt.“
Man konnte in Stuttgart, wo sich alles auf den Ballettsaal, die Bühne und den nahen Griechen konzentrierte, gedeihen und erblühen. „John Cranko hatte ein sehr besonderes Auge für herausragende Qualität und Kreativität“, sagt Kylián. „Ich habe mich immer an ihn erinnert, wenn ich später selbst Begabungen wie etwa Nacho Duato am Nederlands Dans Theater gefördert habe. Einmal habe ich mit Cranko im Saal selbst an etwas choreografiert, dabei wurde gefilmt. Und dann kam Walter Erich Schäfer, heute eine Intendantenlegende, in den Raum und fragte vor der Kamera auf Schwäbisch: ,Wird der ein kleiner Crankole?‘ und John sagte nur: ,,Nein, ein Kylián‘. Ich habe das neulich wiedergesehen, es hat mich sehr sentimental werden lassen.“
Nach dem plötzlichen Erstickungstod John Crankos, 1973 im Flugzeug auf der Rückreise einer New-York-Tournee, über den Jiří Kylián bewegend berichtet, wurde es ihm bald zu eng in Stuttgart. Der Ruf nach Den Haag, zum 1959 gegründeten Nederlands Dans Theater (NDT) kam genau richtig. 1975 wurde er dort Chef und blieb es bis 1999. 50 Stücke hat er hier choreografiert, initiierte neben der Haupttruppe eine Jungkompanie als NDT II und startete mit einigen Veteranen, auch seiner Frau, das aus finanziellen Gründen leider nur bis 2006 existierende NDT III.
Zudem brachte er eine NDT-Spielstätte als eigenes Theater mit auf den Weg, als eines der ersten von Rem Koolhaas errichteten Gebäude. Schon 2016 wurde es durch einen Neubau ersetzt, was ihn sehr geschmerzt hat. Heute ist das Verhältnis zum NDT respektvoll, aber distanziert: „Es ist ein abgeschlossener Abschnitt.“ In Holland ist Jiří Kylián aber gern geblieben: „Sie sind hier eine Seefahrernation, ich rieche die Welt. Böhmen liegt ja bekanntlich nicht am Meer, auch wenn Shakespeare anderes behauptet.“
Nach Oslo ist er immer gern gekommen, ganze 27 Kylián-Stücke haben sie hier im Repertoire. Sieben aus 30 Jahren hat Ingrid Lorentzen für das Festival ausgewählt und auf zwei Abende verteilt, vier frühe, prägende, wie „Forgotten Land“, inspiriert von einem im Munch-Museum um die Ecke hängenden Gemälde, oder die atmosphärische-ritualisierte „Psalmen-Sinfonie“ vor einer Teppichwand zu Strawinskys vitaler Partitur. Beides längst weltweit gespielte Klassiker der Moderne. Der zweite Abend mit drei jüngeren Werken, darunter auch dem leise störrischen „Gods and Dogs“ von 2008, welches das Berliner Staatsballett ab dem 28. Juni erstmals zeigt (gefolgt von einem Nederlands-Dans-Theater-Gastspiel im Juli), offenbart aber auch: So sensibel-eigenwillig Jiří Kylián die Möglichkeiten des Tanzes auslotete, dabei immer freier, neugieriger, aber auch dunkler und zweifelnder wurde, desto stärker entfernte er sich von der reinen Choreografie.
Da hat es einer richtig gemacht, offenbar rechtzeitig neue Pfade genommen, um sich kreativ frisch zu halten. Sei es mit den bildnerischen Arbeiten oder den langsamer entstehenden Filmen (gerade ist einer, gedreht auf einer friesischen Insel, in Arbeit; Kylián zeigt stolz Screenshots auf dem iPad). Die sind immer eine Hommage an seine Frau, die Biene. Eine erwachsene Tochter, sie wird auf Kyliáns ausführlicher Homepage vorgestellt, hat er aber mit einer Japanerin.
Hinter dem älter gewordenen Jungen lauert immer noch ein Filou. Dessen Tanzwerke quasi wöchentlich irgendwo Premiere haben, die längst ein von ihrem Schöpfer liebevoll losgelassenes Klassikerleben auf den Bühnen anderswo führen. Und an denen, vor allem an ihren jungen Interpreten, er sich dann doch immer wieder ergötzt, so wie jetzt in Oslo, wo auch draußen von Tanzschülern mit bunten Glitzerhüten ein wenig Kylián zu Musik von Prince getanzt wird.
„Ich wusste auch immer, wenn ich Scheiße gebaut hatte“, offenbart er freimütig. „Das habe ich dann schnell aus dem Katalog gestrichen. Obwohl das Material, anders aufbereitet, dann oft doch noch zu etwas gut war. Ganz erstaunlich.“ Das Alte ist eben Vergangenheit, nur die Bewegung ist für Jiří Kylián Zukunft.
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