Es gibt Filme, über die mag man gar nicht viel sagen, von denen mag höchstens flüstern. Filme, nach denen man die ständige Angst hat, beim Reden über sie zu laut zu werden. „Zikaden“ ist so ein Film. Die Schauspielerin Ina Weisse hat ihn geschrieben und inszeniert. Erlebt hat sie ihn zumindest in Teilen auch.
Von Anja und Isabella erzählt „Zikaden“. Und von Brandenburg, von Landflucht und Fremdheit, vom Pflegenotstand und prekärer Mutterschaft, vom Schatten der Väter und den unerfüllten Wünschen der Töchter, von der nicht stillbarer Sehnsucht nach Liebe und einem Ort zum Leben. Das vielleicht größte Wunder (ein zu lautes Wort, ich weiß, es passt aber) von „Zikaden“ ist, wie Ina Weisse all den Themen, mit denen sie operiert, die Schwerkraft genommen hat. „Zikaden“ ist ein schwebender Film. Ein stiller Film. Erzählt in Skizzen, in Bildern und Räumen, in Gesten und Blicken, im minimalen Spiel der Gesichter. Saskia Rosendahl ist Anja, Nina Hoss ist Isabella. Ohne die beiden wäre „Zikaden“ nichts. Aber dazu später mehr.
Es ist heiß über Brandenburg. Eine normal zersiedelte ostdeutsche Gegend. Die Natur umstellt gleichgültig ein durchschnittlich verwahrlostes Dorf und ein wie aus dem Architekturmuseum für Bauhaus-Nachfolge in die viele Gegend geplumpstes Klinkerhaus an dessen Rand.
Die Kamera schwenkt an einem Waldrand vorbei. Anja rennt ihrer Tochter hinterher. Greta heißt sie und ist ein wildes Mädchen. Man sieht sie Maden mit einem Stöckchen aus einem Vogelkadaver prukeln.
„Zikaden“ ist auch ein Psychothriller, aber wie alles andere ist Ina Weisses drittes Kinodrama auch das nur hinter vorgehaltener Hand. Man spürt das Unheil, wie man es in französischen Filmen (Deutsche können das eigentlich nicht) gern manchmal spürt (auch die melancholische Musik legt sich übrigens wie ein Schatten aus Frankreich über alles). Immer wieder lässt Ina Weisse es aufflackern, es tritt irgendwann sogar ein, aber anders und wortlos und brennt sich in seiner Ungeheuerlichkeit genau deswegen ein.
Zurück aufs Land. Da kommt Isabella an. Anja beobachtet es von fern. Man kann Anjas Miene schwer deuten, wie man Anja überhaupt schwer deuten kann. Glaubt aber etwas eher Unheimliches, einen Anflug von Gier über ihr Gesicht huschen zu sehen.
Sie sind im Konvoi von Berlin gekommen. Ein Rollstuhl wird ausgepackt, Isabellas Vater ins Haus geschoben. Es ist sein Haus. Er war ein großer Architekt. Wahrscheinlich – weil der Architekt Rolf D. Weisse, der Vater von Ina Weisse, ihn spielt – mal im Büro von Mies van der Rohe. Er hat es gebaut. Er will es behalten. Er kann nicht mehr viel. Er hatte einen Schlaganfall.
Isabella darf tote Fliegen im Sommerhaus wegsaugen, ständig hin- und herfahren zwischen ihrer Existenz in Berlin und dem Haus auf dem Land. Sie wird zerrieben, wie gerade Millionen Frauen mittleren Alters zerrieben werden, kümmert sich weniger um sich, um ihren Job (ihr Kinderwunsch blieb unerfüllt) als um die Organisation der Vollzeitpflege ihrer Eltern, telefoniert hinter Pflegediensten her, führt Personalgespräche mit polnischen Pflegekräften.
Alles kreist um den Vater
Isabella ist auch Architektin, verkauft aber jetzt als Maklerin Entwürfe anderer für teuer Geld. Der große Schatten des Vaters, der immer noch, jetzt aber auf andere Art über ihrem Leben liegt, der Wunsch, es ihm recht zu machen, von ihm anerkannt zu werden, hat – aber das vermuten wir jetzt nur – sie erstarren lassen. Ihrer sowieso nicht unbelasteten Ehe mit Philippe hat das nichtendenwollende, immer heftigere Kreisen ihres Denkens um ihren Vater den Todesstoß versetzt.
Von Isabella weiß man alles. Von Anja weiß man beinahe nichts. Sie sind – ohne dass es in „Zikaden“ jemals klischiert wirkt oder schablonenhaft – Gegenbilder in beinahe allem: die Bildungsbürgerin aus dem Westen, die alleinerziehende Tellerwäscherin aus dem Osten. Zwei Varianten prekärer Existenz in Deutschland. Was Isabella an Identität fast zu viel hat, hat Anja fast zu wenig. Was sie erzählt von sich, könnte auch ganz anders sein. Sie ist der eigenartige Fremde, der sich in Thrillern gern in anderer Leute Leben schleicht.
„Du bist schön“, sagt Anja mal zu Isabella. Sie nähern sich an. Erkennen einander. Und dann schließen sie einen Pakt. Unausgesprochen, sichtbar in Judith Kaufmanns Bildern, paradoxen bewegten Stillleben. Die inneren Geschichten, die Saskia Rosendahl und Nina Hoss, die mimisch wahrscheinlich beredtesten deutschen Schauspielerinnen, auf ihre Gesichter projizieren, die sie mit Mundwinkeln, Augenaufschlägen, Blicken erzählen, würden ganze Romane füllen.
Das war jetzt schon wieder ziemlich laut. Zu viel gesagt haben wir wahrscheinlich sowieso. Nur sechs Worte noch: Muss man in diesem Sommer sehen.
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