Als 1903 Thomas Mann den deutsch-italienischen Dichter Tonio Kröger in seiner gleichnamigen Novelle seinem blond-blauäugigen Freund Hans Hanssen hinterherschmachten ließ, lag darin auch die jahrhundertelange Liebe der Deutschen zur italienischen Kultur und vice versa. Vor allem die Nordländer hat es immer schon sehnsuchtsvoll über den Brenner in den Süden gezogen – hin zum Licht, zu den Farben, zur Lebensfreude, auch zur Sinnlichkeit.
Albrecht Dürer wurde um 1500 zu einem anderen Künstler – nicht zuletzt durch zwei Reisen nach Venedig. Geschäfte machen wollte er natürlich auch. Schon in der Zeit der „Grand Tour“ im 18. und 19. Jahrhundert lockte Italien die Adelssöhne Europas (ein paar frühemanzipierte Frauen waren auch dabei), als Vorläufer kommender Touristenströme. Dort sollten sie ihren Geschmack schulen und Altertümer für die Einrichtung erwerben, durften vor der Ehe aber auch noch mal letzte Abenteuer eingehen. Und so fuhren auch manche Komponisten gen Italien, die an Ruhm und Rubel dachten: Denn die Musiksprache jener Zeit wurde von den Klangzentren in Venedig, Rom und später Neapel beeinflusst. Wer es hier schaffte, hatte überall Erfolg. Die angesagten Hits sowie auch die Sänger jener Zeit kamen aus Italien.
Johann Sebastian Bach verließ Deutschland nie und musste seinen italienischen Geschmack via Vivaldi-Notenabschriften schulen. Sein gleichaltriger sächsischer Komponistenkollege Georg Friedrich Händel reiste hingegen schon als sehr junger Mann nach Italien.
Zwei Sommer im Castello Ruspoli
Wer kürzlich trotz der schlechten Kritiken die Neuverfilmung von Boccaccios „Decamerone“ auf Netflix gesehen hat, der wandelte auf Händels Spuren durch das im Studio nachgebaute Schloss „bei Florenz“. Dessen echte Außenansicht liegt samt Garten in Latium. Mitten im Dorf Vignanello erhebt sich das Castello Ruspoli mit seinen seit der Renaissance kaum veränderten Boskettgärten.
Principessa Ruspoli gewährt Einlass in den Familiensitz, denn sie muss heute für Feste, Filme und Präsentationen vermieten. Ihr Vorfahr Francesco Maria Marescotti förderte ab 1707 für zwei Jahre einen jungen, als famoso oder caro sassone gefeierten deutschen Komponisten: Georg Friedrich Händel.
Der 22-jährige Händel verbrachte wohl zwei Sommer als Kapellmeister im Castello Ruspoli. Er komponierte dort nachweislich eine Salve Regina und die Kantate „Diana Cacciatrice“. Dem Fürsten gewidmet wurde das Oratorium „Il trionfo del Tempo e del Disinganno“. Zu diesem hatte wiederum Kardinal Benedetto Pamphilj das Libretto verfasst, der ebenfalls als Mitglied des einflussreichen Mäzenantenzirkels Accademia dell'Arcadia den jungen Deutschen unterstützte. Bei Pamphilj im römischen Palast wohnte auch bis zu seinem Tod 1713 der schwule Komponist Arcangelo Corelli mit seinem Gefährten.
Zwischen degenerierten Medici-Fürsten
Über die sexuellen Präferenzen des nie verheirateten Händel ist nichts Eindeutiges bekannt. So kann man nur spekulieren, wie der wohl damals noch attraktive Jüngling sich in den vier Jahren Italien auf dem dortigen Liebesmarkt positioniert hat – zwischen degenerierten Medici-Fürsten, römischen Prälaten, Künstlervolk und dem ihm sehr zugetanen Kardinal Pietro Ortoboni.
Die Reise nach Italien hat er sich jedenfalls von keinem Mäzen finanzieren lassen, obwohl Ferdinando de’ Medici gern gezahlt hätte. In jedem Fall schmiss sich der Komponist sofort auf erste Projekte, in denen er einen regelstrengen deutschen Kontrapunkt mit italienischer Melodienseligkeit zu verbinden wusste.
Händel-Aufenthalte sind nachgewiesen in Florenz, Rom, Neapel und erst 1709 in Venedig. Im Frühjahr 1710 reiste er definitiv in Richtung Heimat ab. Im Juni wurde er Kapellmeister am Hof von Hannover, doch schon im Dezember reiste er erstmals nach London.
Schon in Italien riss man sich um den Begabten, der sein Talent für die feiersüchtige Adelsgesellschaft vor allem in vokalen Gelegenheitswerken, kleinbesetzten Kantaten mit wenigen Instrumenten und meist zwei bis drei Arien verströmte. Die ließen sich wunderbar bei Abendessen, Sommerfesten oder literarischen Soireen auch in intimerem Rahmen aufführen. Für diese, 120 sollten es sein, schrieben meist die adeligen Dilettanten die auf Mythologien und Schäferdichtungen fußenden Worte. Händel selbst benutzte diesen Musikschatz, den er direkt am Output der damals angesagten Kollegen Corelli, Antonio Lotti, Antonio Caldara sowie Alessandro und Domenico Scarlatti schulen konnte, immer wieder als Vorrat – vor allem für seine insgesamt 42 Opern und 24 Oratorien.
Schlüpfriger Stoff
„Das ist entweder der berühmte Sachse oder der Teufel!“, soll Domenico Scarlatti auf dem Karneval in Venedig ausgerufen haben, als er den maskierten Händel virtuos auf einem Cembalo präludieren hörte. Da in Rom wegen kriegerischer Ereignisse und eines auf die moralische Verlotterung der Metropole zurückgeführtes Erdbeben durch Papst Clemens XI. Opernaufführungen verboten worden waren, komponierte Händel 1708 für das Ruspoli-Privattheater im Palazzo Bonelli noch ein zweites, diesmal kirchliches Oratorium „La Resurrezione“. Neben dem Dixit Dominus schrieb er für Neapel die Serenata „Aci, Galatea e Polifemo“. Bei Ruspoli lernte Händel auch die dort angestellte Sopranistin Margherita Durastanti kennen, die später mit seinen Opern in London und Paris brillierte.
Seinen wachsenden Ruhm in Europa verbreitete Händel aber vor allem mit zwei Opern: „Rodrigo“ war 1707 in Florenz herausgekommen. Doch wichtiger wurde die zur Karnevalsaison 1709 in der Opernhauptstadt Venedig erstmals gespielte „Agrippina“. Auch deren unmoralisches Libretto über die Macht- wie Liebesgelüste von Kaiser Neros später ermordeter Mutter, schrieb ein väterlicher Kardinal, Vincenzo Grimani, gleichzeitig Vizekönig von Neapel.
Der „Agrippina“-Stoff mag schlüpfrig sein, doch hatte hier Händel eines seiner besten Textbücher in Händen. Während die Händel-Festspiele in Karlsruhe dieses Jahr mit „Rinaldo“ dessen ersten Londoner Opernerfolg von 1711 in den Mittelpunkt stellten, begannen die Händel-Festspiele Halle, die sich dessen italienischer Reise widmen, mit „Agrippina“. Das Werk war zudem in der Zwischenzeit auch an der Oper Zürich zu sehen. Mit so bedeutenden Barockstimmen wie Anita Bonitatibus in der Titelrolle und den Countertenören Christophe Dumaux als Nerone und Jakub Józef Orliński als Ottone wurde das unter Harry Bicket als Leiter des hauseigenen Orchestra La Scintilla nicht nur ein Sängerfest. Jetske Mijnssen hat das so böse wie zynisch als ein antikes „House of Cards“ inszeniert, wo beim Aufstieg zur Macht jeder Spielzug tödlich enden kann.
Es fließen die Säfte
Denn egal, wie er nun selbst drauf war: Georg Friedrich wusste, was auch Frauen wünschen. Macht, Macht, Macht. Dafür kämpfen und intrigieren sie, dafür spielen sie ihre Liebhaber gegeneinander aus, spritzen sich die Lippen auf und polstern den Busen. Es funkeln die Klunker, und es glitzern die Augen – hart, gnadenlos, tückisch. Weich werden diese Weiber nur, wenn sie sich ihrem Ziel nahe wähnen: auf dem Thron oder dem begehrten Mann. Am liebsten auf beidem.
Strotzend vor Witz und Winkelzügen kämpfen in „Agrippina“ keine Heroen mit dem Pappschwert, sondern Höflinge zoffen sich wie Marktweiber. Ganz dem venezianischen Geschmack entsprechend, geht es unverblümt zur Sache, keinem Herrscher muss hier gehuldigt werden, dem Bürger soll es gefallen. Da Kardinal Grimani gleichwohl gegen Papst Clemens XI. opponierte, hat man die „Agrippina“, die im eigenen Theater seiner Familie uraufgeführt wurde, gern als Satire auf die Zustände im Vatikan gelesen.
Sind auch die frühen römischen Händel-Arien noch lange nicht so originell und individuell gefärbt wie die Londoner Opern, so tragen sie doch diese fintenreiche Geschichte in sich. Sex und Sinnlichkeit sind eben nicht selten gute Inspirationsquellen. Grade für einen so raffiniert schnell lernenden, alle Säfte fließen lassenden Jüngling wie den jungen Händel. Und so passt doch das Motto der noch bis zum 15. Juni laufenden Festspiele in Halle: „Frischer Wind“.
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