Russland ist ein Haus. Kein Palast und keine Datscha, sondern ein Plattenbau. So ist eben der real existierende Sozialismus auf den Bären gekommen. Zwei Stockwerke, ein Treppenhaus, 18 Wohnlöcher, gerne auch „Arbeiterschließfächer“ genannt, der stets zynische Heiner Müller hat sie als „Fickzellen mit Fernheizung“ gefeiert. Letzterer Tätigkeit geht man auch unter Rotlicht professionell im ersten Stock links nach, da gibt es einen kleinen Privatpuff, in dem bald schon die letzten Hüllen fallen. In den anderen Zimmern aber wird Weihnachten gefeiert, prekär, aber irgendwie friedlich, ja glücklich sogar.
Das bleibt in der Dutch National Opera natürlich nicht so. Denn am Kinderspielgerüst vor der Tür prangt bereits ein Wahlplakat des autoritären Politikers Boris Godunow. Der gibt sich in Gestalt des alerten polnischen Bassbaritons Tomasz Konieczny zwar verbindlich, scheinbar mitfühlend, doch am Ende von Mussorgskys immer wieder frieren machendem Opernepos über Masse und Macht unter dem alle zermalmenden Rad der Geschichte ist das Land noch kaputter, sind die verwundeten Frontsoldaten als Memento in jeder Wohnung, wird geschlagen, kontrolliert, arrestiert. Das Haus ist eine Hölle geworden. Und alle sind längst still. Nur der Gottesnarr, auch er blutig geschlagen, jammert noch.
Dem viel beschäftigten Starregisseur und russischen Exilanten Kirill Serebrennikow, der sich nicht selten in seiner rastlosen Kunstselbstbefragung in zu vielen Konzepten verliert, ist hier eine ruhige, kluge, anrührende, eigentlich einfache Inszenierung gelungen – obwohl sie sich als Wimmelbild auf der Breitwandbühne präsentiert. Als sein eigener Ausstatter hat er passgenau die speziellen Ressourcen dies eigenwilligen Hauses zu nutzen gewusst, allen voran den tollen, spielfreudigen Chor (einstudiert von Edward Ananian-Cooper), der hier ganz nebenbei tausend individuelle Schicksale beleuchtet und doch, auf die einzelnen Wohnschubladen aufgeteilt, hervorragend singt.
Heillos aktuell, jedoch überzeitlich
Immer zur Eröffnung des Holland Festivals sitzt in Amsterdam zudem einmal im Jahr das Koninklijk Concertgebouworkest im Operngraben. Unter dem aufmerksamen Vasily Petrenko leuchten zart die Streicher in wellenartigen Repetitionen, die Holzbläser ziselieren ihre ostinat schillernden Linien. Es kann aber auch schroff und perkussiv laut werden, wenn das Volk dröhnt, die Glocken Boris die Geisterstunde läuten, die Militärs aufmarschieren.
Russen, Moldavier, Armenier, Usbeken, Chinesen, Taiwanesen, Engländer, Amerikaner, Niederländer – ein ausgezeichnet besetztes Ensemble bis hin zum Altstar Roger Smeets in der Minipartie des Wirts entfaltet grandios eine heillos aktuelle, jedoch überzeitliche Chronik politischer wie menschlicher Misswirtschaft. Und gerade weil Koniecznys Boris in dessen eindrücklichem Rollendebüt nicht poltert und bramarbasiert, eigentlich immer Mensch bleibt, ist er umso unheimlicher in seiner kalten Verrichtung des seelenlosen Politalltags, in dem jede Entscheidung Konsequenzen hat; was hier detailreich, aber übersichtlich im Haus dahinter exekutiert wird.
Man spielt in Amsterdam nicht die fragmenthaftere Urfassung des „Boris Godunow“, sondern die vieraktige Version mit dem Polenbild samt katholischer Jesuitenschleimigkeit und italianisierender Melodik. Der falsche Thronprätendent Dmitri (hier ein Essenskurier), wunderbar plastisch gesungen von Dumitru Mitu, findet seine Magnatentochter Marina (die mezzofamose Raehann Bryce-Davies) freilich in einem TV-Studio: Die nämlich ist er der Star einer Polit-Soap namens „Conspiracy“; so verliert er sich liebend zwischen Schein und Wirklichkeit.
Abgeklärter mit Realitäten umzugehen, verstehen allerdings der joviale Chronist Pimen (Vitalij Kowaljow), der fiese Strippenzieher Schuiski (Ya-Chung Huang), die beiden Bettelmönche Vaarlam (Shenyang) und Missail (Steven van der Linden) und der listenreiche Rangoni (Gevorg Hakobayan). Und seinem eigenen Schicksal als ewiger, von der Staatsgewalt verfolgter Querulant und Dissident ähnlich, hat Serbrennikov seinen auch singenden Lieblingsschauspieler Odin Lund Biron als einige ernüchternde, auch mal sarkastische Sprechtexte einschiebenden Gottesnarren besetzt.
Immer wieder schlägt dieser scheinbar konkrete Bilderbogen um ins Surreale: Wenn da plötzlich in den Wohnungen rote Höllengestalten tanzen, wenn alles grün leuchtet, wenn dieser beschädigte Menschensilo plötzlich eine scheinbar unversehrte Außenfassade offenbart. Denn lange schon ist in diesem russischen Haus der Wurm des Zerfalls drin.
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