Weit war der Weg durch sein Jahrhundert. In der jungen DDR hatte der Mecklenburger Bauernsohn Günther Uecker keinen schlechten Start ins Leben. Die künstlerische Begabung ist früh erkannt worden. Er gehörte zur Mal-Brigade an einem 20 Meter hohen Stalin-Porträt, wurde Spezialist für das Design politischer Aufmärsche, genoss die Privilegien des Kaders und sah zu, wie die Fremdheit wuchs. 1953 nach dem Volksaufstand ist er im Westen geblieben.

Otto Pankok, der Wunschlehrer an der Düsseldorfer Kunstakademie, wollte den abgerissenen Bohemien nicht gleich aufnehmen. „Junge, geh’ wieder zurück, hier wirst du verdorben. Da habe ich einen solchen Weinkrampf bekommen, dass er ins Sekretariat gerannt ist und mich eingeschrieben hat.“ So hat es der Künstler immer wieder erzählt. Kurzerhand sei er mit seiner Matratze ins Klassenzimmer eingezogen. Und dort hat der Kunststudent nicht lange gebraucht, um sich vom abstrakten West-Stil verderben zu lassen.

Vielleicht ist ja „abstrakt“ auch gar nicht die richtige Kennzeichnung. Die feinen erdigen Strukturen und milchweißen Raster, mit denen Uecker seine frühen Bilder überzogen hat, halten sich sichtlich aus dem Zeit-Streit heraus, den die Anhänger der Gegenständlichkeit und der Ungegenständlichkeit mit Leidenschaft führten. Umso mehr mussten sie in der rheinischen Avantgarde auffallen, die damals eine neue Stunde Null ausrief. Unter der Parole „Zero“ schwärmten die Künstler von unendlichem Licht und unendlichem Weiß, das die beschränkte Welt der Dinge und ihrer Abbilder überwinden würde.

Uecker gehörte zum Umfeld der Zero-Bewegung

Im silbernen Overall ist Heinz Mack in die Wüste aufgebrochen, um die gleißende Sonne in spiegelnden Skulpturen einzufangen. Uecker traf unterdessen Vorbereitungen in der Düsseldorfer Altstadt, wo er vor der Galerie Schmela die Straße weiß streichen wollte. Eine meditative Zero-Aktion, so war sie gedacht. Aber dann kam Joseph Beuys vorbei und hat in Happening-Laune die Farbwanne umgekippt. Und der rauschebärtige Galerist wird sich gedacht haben, wie gut, dass er beide im Stall hat, den Weiß-Künstler und den Fluxus-Künstler, und dass die Fernsehkameras zur Stelle waren, die die öffentliche Farb-Schüttung im Abendprogramm brachten.

Anders als es die Überlieferung will, war Uecker nicht Mitgründer der Zero-Bewegung. Wohl hat er eine Zeit lang bei den legendären Abendausstellungen mitgemacht. Doch war er bei allem Weiß-Überschwang immer auch auf Abstand bedacht. Jedenfalls vertrat er die reine Lehre der Leere nie so inständig wie seine Kollegen Otto Piene und Heinz Mack. Und im Rückblick auf das Werk, das ungemein rasch bekannt geworden ist, entdeckt man ungleich mehr Eigensinn als Gruppen-Disziplin.

Schon die Raster-Bilder und vollends dann die Nagel-Arbeiten, die in den späten 1950er-Jahren einsetzten, geben sich nicht so neutral, wie es die Zero-Vorschrift verlangt. Frei von allem futuristischen Pathos scheinen sie mehr noch an intimen Erzählungen interessiert als an der Entgrenzung von Raum und Zeit. Die handschriftliche Unregelmäßigkeit der aufgemalten oder eingehämmerten Elemente lässt an Zeichen denken, die verschwiegen im monochromen Grund pulsieren.

So wie die Nägel nie in Reih und Glied stehen, erinnern sie an stählerne Bleistifte, mit denen sich subtile Stimmungswerte zeichnen lassen. Ihre Cluster muten an wie Ährenfelder, durch die Licht und Schatten wehen. Und die Nagelköpfe auf den Stahlstiften verschmelzen zu Wellen und Wolken, verdichten und stauen sich in kreisender Bewegung. Wie bei den Formationen von Vogelschwärmen oder Scharen tanzender Insekten. Auf manchen Bildern sieht es aus wie aufziehender Sturm oder wie Verheerungen, nachdem der Sturm abgezogen ist.

In seiner behutsam expressiven Anlage unterscheidet sich das Werk deutlich von der Kunst- und Welterneuerungsemphase der „Zero“-Gruppe. Das Nägel-Setzen war für Uecker vor allem ein Medium, mit dem sich im Sinne Kandinskys noch einmal das „Geistige in der Kunst“ sichtbar machen ließe. Mit der Sprache der Nägel hat er sich sein eigenes Aufschreibesystem geschaffen, eine Art Geheimcode, der sich nie vollends entschlüsseln lässt und doch ganz unübersehbar Mitteilung sein will.

Es hat gar nicht ausbleiben können, dass die zwischen Poesie und Drama alle rhetorischen Möglichkeiten auskostende Nagel-Schrift zur großen Produktion verführt hat. Es ist aufs Werk-Ganze gesehen zwischen Schönheit und Gefälligkeit oft nur ein kleiner Schritt. Und es gab immer wieder auch kulinarische Passagen, in denen der Mann mit dem Hammer so ziemlich jedem Möbeltypus ein Igelfell übergezogen hat. Und wenn ein entsprechender Auftrag kam, dann hat er ohne viel Skrupel auch goldene Arm- und Fingerringe mit beweglichen Nägeln entworfen. Die lückenlose Retrospektive müsste etwas Peinigendes haben. Der Ruhm des Künstlers, seine Popularität, die Preise, die er auf dem Kunstmarkt erzielt, gründen auf einer Selektion von eminenten Arbeiten, die seinem Werk kunstgeschichtlichen Halt und Rang geben.

„Der geschundene Mensch“

Dabei gab es immer auch den anderen Uecker, der aus seiner Versunkenheit ins Nagel-Journal gleichsam hochgeschreckt und mit Verstörung und großer kritischer Gebärde der Welt begegnet ist. Kunst aus Kunst, das habe ihn nicht interessiert. „Ich will Bilder in die Welt setzen, die unvergleichbare Erscheinungen des inneren Ausdrucks sind. Ich gebe Zeichen, ich stelle mich bloß, ich stelle mich.“ Das war sein Credo. Und Günther Uecker stellte sich als verletzlicher Zeitgenosse, wie das wenige seiner Generation getan haben.

Stark waren die Affekte, die ihn 1984 zu seinem dunklen „Black Mesa Zyklus“ angestiftet haben, einer Art bildnerischer Gedenkstätte für die Indianer, die sich gegen den Uranabbau unter ihrem heiligen Berg zur Wehr gesetzt haben. Später, als die ersten Nachrichten aus Tschernobyl kamen, hat er sich unbekleidet auf seine Leinwände gelegt und „wie epileptisch“ mit den in Asche getauchten Händen um sich herum gemalt. In einer Welttournee ist seit 1993 Ueckers Ausstellung „Der geschundene Mensch“ von Station zu Station weitergereicht worden. Bis nach Moskau, Teheran, Peking, Havanna. Und überall die gleiche Betroffenheit vor und in der Installation, einem imposanten Ensemble aus Holzlatten, Schriftblättern, Steinen, Sand und Tüchern, deren dunkle Gestik wachruft, was Menschen Menschen antun.

„Geißelmühle“ heißt eine der Stationen, „Weiße Tränen“ eine andere. Als seien aus dem Zero-Weiß die letzten Zuversichtsreste geschwunden. „Dies ist mein Protest“, hat Uecker gesagt, „meine Stellungnahme, ein Ausdruck meiner Erregtheit, sozusagen ein Porträt eines Künstlers in Deutschland.“ Dass die Kunst den Menschen nicht retten kann, hat er gewusst. Aber an den Dialog mit den Mitteln der Kunst, an den hat er unbeirrbar geglaubt. So ist ein sensibles, selten vielgestaltigen Werk ins Unüberschaubare gewachsen, das wunderbare Mittel für die Erschütterungen der Seele gefunden hat und sich immer wieder an der Welt und ihren Gegenständen rieb, die sich aller „Zero“-Rezeptur zum Trotz eben doch nie wirklich ins Licht setzen lassen.

Als wir Uecker zum achtzigsten Geburtstag besucht haben, hat er stolz erzählt, noch zwanzig schöpferische Jahre vor sich zu haben. Und er hat gelacht dazu, dass ihm die kleinen Fältchen durchs ganze Gesicht zuckten. Im Alter von 95 Jahren ist Günther Uecker in Düsseldorf gestorben.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke