Udo Jürgens hat alles kommen sehen: „Wenn Tante Emma nicht mehr ist und ein Discount den Laden frisst, setz ich mich auf den Bürgersteig und trete in den Hungerstreik.“ Das war 1976.

Schon damals gab es Konsumtempel, in denen man 400-Meter-Läufe hätte veranstalten können. Das überforderte viele: „Im Einkaufscenter und Discount, da bin ich immer schlecht gelaunt. Im endlos großen Supermarkt, da droht mir gleich ein Herzinfarkt. Da liegen die Regale voll; ich weiß nicht, was ich nehmen soll. Da wird das Kaufen zur Tortur.“ Udos Schlussfolgerung: „Ich geh zu Tante Emma nur.“

Dort war man nicht bedient, sondern wurde es. Denn viele Waren befanden sich jenseits der Theke, jener heiligen Zone, die kein Kunde betreten durfte. Man läuft in der Kirche ja auch nicht hinter den Altar. Und Tante Emma war schließlich – wie der Herr Pastor – eine Respektsperson. Mit dem Unterschied: Während man im Gotteshaus beten musste, dass Wünsche erfüllt würden, genügte bei Tante Emma ein Griff ins Portemonnaie, um sie wahr werden zu lassen.

Waren gegen Geld – das mag heuer banal klingen. Shopping ist selbstverständlicher Teil unseres Alltags. Wir sind es gewohnt, in Supermärkten zwischen hundert verschiedenen Schokoladensorten und ebenso vielen Joghurtvarianten wählen zu können (vorsichtig geschätzt).

In den Sechzigerjahren hingegen war Einkaufen noch etwas Besonderes. Vor allem auf dem Land gab es viele Menschen, die sich so weit wie möglich selbst versorgten. Die ranklotzende Do-it-yourself-Hausfrau hätte es als Schmach empfunden, Sauerkraut in Dosen zu kaufen. Es war doch keine Wissenschaft, Weißkohl einzulegen und in Tontöpfen zu lagern. Und wozu brauchte man eine Obsttheke! Man hatte doch einen Nutzgarten, dessen Früchte man für den Winter einweckte. Manche besaßen sogar Hausschweine, deren Fleisch garantiert „Bio“ war.

In jenen Tagen war der größte Konkurrent von Tante Emma der Selbsterzeuger – nicht der Supermarkt. Denn dort kosteten Nesquik, Maggi und Verpoorten-Eierlikör auch nicht weniger als bei ihr. Tante Emma hatte nämlich mächtige Verbündete. Sie hießen Nestlé, Danone, Schöller, Langnese, Iglo, Dr. Oetker, Bahlsen, Haribo, Eckes, Melitta, Hengstenberg, Knorr und Birkel (um nur die bekanntesten zu nennen).

All diese Markenunternehmen hatten kein Interesse an einem Preiskrieg. Für ihre Handelstätigkeiten war es am einfachsten, wenn ihre Produkte überall – ob im Düsseldorfer Horten oder im Dudeldorfer Tante-Emma-Laden – gleich teuer waren. Das ersparte langwierige Verhandlungen und stellte sicher, dass die Schnäppchenjäger im Zaum gehalten wurden. Bis Ende 1973 wachte das Kartellamt mit Argusaugen darüber, dass die Preisbindung eingehalten wurde. Auch das bedeutete SOZIALE Marktwirtschaft: Tante Emma stand unter Welpenschutz.

Wobei dieses Bild nicht ganz passt. Tante Emma und ihr Gatte Onkel Erwin hatten nichts mit Hundebabys gemein. Sie waren weder jung noch niedlich oder knuddelig. Im schlimmsten Fall war Tante Emma eine ausgewachsene Bulldogge, die jeden anknurrte, dessen Verhalten ihr missfiel. Sie reagierte ungehalten, wenn man ungefragt ins große Süßigkeitenglas mit Lakritzschnecken (5 Pfennig das Stück) griff. Und wer in der aktuellen „Micky Maus“ blätterte, um herauszufinden, ob sie ihre 1 Mark 50 wert war, wurde barsch zurechtgewiesen.

Ohnehin schien sie Kinder nicht sonderlich zu mögen. Lieber plauderte sie ausgiebig mit Erwachsenen – „bei Tante Emma ist's privat, sie ist kein Warenautomat.“ Sie sorgte dafür, dass Neuigkeiten im Dorf oder Stadtteil schnellstmöglich die Runde machten. Hier erfuhr man, dass Kröningers Ottfried mit Cullmanns Hedwig im Bett erwischt worden war. Eine Aussage, die uns seinerzeit verwirrte. Wo hätten sie sonst schlafen sollen? Auf der Couch?

Und wo es viel zu bereden gab, dauerten die Einkäufe auch schon mal länger. Rentner, die im Auftrag der Hausherrin Besorgungen erledigten, nahmen gern im Nebenraum Platz, um sich mit Bier und Schnaps für den Nachhauseweg zu stärken. Das war vor allem morgens, wenn die Kneipe noch geschlossen hatte, praktisch.

Tante Emmas Geschäft fungierte zudem als inoffizielle Sparkasse, die Dispokredite vergab – „sie sagt, wenn ich nicht zahlen kann: Was macht das schon, dann schreib ich an!“ So prägte sie das Wirtschaftsleben ihres Dorfs oder Stadtteils.

Doch mit dem Wegfall der Preisbindung 1974 begann für Tante Emma ein ungleicher Konkurrenzkampf. Zumal mittlerweile jeder ein Auto hatte, um im Warenhaus auf der grünen Wiese Großeinkäufe zu erledigen. Auch schien keines ihrer Kinder daran interessiert zu sein, sechs Tage in der Woche im Kittel hinter der Theke zu stehen.

Kein Wunder, dass Udo Jürgens die Wehmut packte: „Im Tante-Emma-Laden an der Ecke vis-à-vis, wenn an der Tür die Glocke bimmelt, ist das beinah schon Nostalgie.“ Heute kann man das „beinah“ streichen.

Frank Jöricke ist Autor des Buches „Früher war alles anders. Von Dr. Sommer bis Sonntagsbraten“ (Yes-Verlag). Der Artikel ist ein exklusiv für die WELT geschriebener Beitrag im Stile der darin gesammelten nostalgischen Miniaturen.

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