Eine neue Biografie deutet das Leben von Thomas Mann – und dessen unterdrückte Homosexualität.

Es gibt historische Begegnungen, deren Bedeutung sich erst im Rückblick verdeutlicht. Für einen Moment treffen sich nicht bloß Persönlichkeiten, ganze Epochen schrammen förmlich aneinander. Der Literaturhistoriker Tilmann Lahme hat eine solche in seiner neuen Biografie über Thomas Mann dokumentiert. Eine 16-jährige Studentin aus Chicago war im Dezember 1949 bei dem im Exil in Pacific Palisades lebenden deutschen Literaturnobelpreisträger vorstellig geworden, um ihre selbst verfasste Interpretation des "Magic Mountain" zu überreichen. Beider Tagebuch-einträge verraten, dass der Besuch wenig beeindruckend verlaufen sein muss. Dass die Studentin namens Susan Sontag bald als eine der scharfsinnigsten Denkerinnen der USA für Furor und Furore sorgen würde, konnte damals freilich noch keiner ahnen. Lahme zeichnet eine andere Gemeinsamkeit neben dem Schreiben: Mann wie Sontag waren homosexuell, ihr Werk zumindest "proto-queer", beide sollten sich nie öffentlich "outen". Vermutlich war Sontag auch deshalb vom "Zauberberg" fasziniert, da sie das subtile homoerotische Geflecht als eine der wenigen emotional durchdrang.

Es war absehbar, dass im Jahr des 150. Geburtstags Thomas Manns zahlreiche Neuerscheinungen auf den Markt kommen würden. Es gibt einen Themenabend bei Arte, eine limitierte Thomas-Mann-Figur von Playmobil, der Schauspieler Ulrich Tukur hat die schönsten Mann-Texte über das Meer gesammelt. Kaum ein deutscher Romancier beschäftigt in ähnlicher Art eine solche Forschergemeinde, weshalb es jedoch als unwahrscheinlich galt, dass hier spektakulär Neues ansteht. Lahme aber ist ein neuer Blick auf Manns Leben und Wirken gelungen, indem er dessen unterdrückte Sexualität verhandelt. Auch davon war zwar schon einiges zu lesen, doch nie so umfassend und brillant erzählt.

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Thomas Mann versiegelte Tagebücher

Dabei war es Thomas Mann selbst, der sein Gefühlsleben der Nachwelt nicht verborgen halten wollte. Nur eben nicht zu Lebzeiten. Die brisanten Tagebücher hatte er noch selbst versiegelt und testamentarisch festgelegt, dass sie erst 20 Jahre nach seinem Tod geöffnet werden dürften. Dies fiel praktischerweise mit seinem 100. Geburtstag zusammen, als sich seine Geburtsstadt Lübeck anschickte, den großen Sohn gebührend zu feiern – wenn auch nicht als verhinderten Homosexuellen. "Heitere Entdeckungen dann, in Gottes Namen. Es kenne mich die Welt, aber erst, wenn alles tot ist", hatte Mann vor seinem Tod geschrieben und die Überraschung über sein wirkliches Wesen vorausgesagt. Man kann sein Schmunzeln förmlich lesen. 

Doch war keineswegs alles tot, Witwe Katja Mann lebte noch, wenn auch dement. Sohn Michael Mann versuchte, weitreichende Teile zu streichen. Später sollte Herausgeber Peter de Mendelssohn dafür sorgen, dass Thomas Manns eigene Ausführungen zu seiner Homosexualität nie vollständig und etwas verschämt an die Öffentlichkeit gelangten. Es werde bis heute "in überraschender Härte gerungen, Platzverweise erteilt, Forschungsfragen von Grund auf für unzulässig erklärt", beklagt Lahme, und auch, dass "Wissenschaft behindert und – gern mit dem eigenen Buch – Forschung für beendet erklärt" worden sei. Welch Volte, dass auch sein Buch schon in ähnlicher Weise in das Ringen um Deutungshoheiten geraten ist, etwa in der "Neuen Zürcher Zeitung", wo man Lahme "Voyeurismus" unterstellt hat und der Kritiker mitzählte, wie oft das Wort "Sex" vorkomme, nämlich 480 Mal. Mit wie viel Scham und überzogener Forderung nach Diskretion immer noch auf diesen Mann geblickt wird, lässt ermessen, wie wichtig eine Publikation wie die von Lahme ist.

Davos Hoch auf den "Zauberberg" – und raus aus dem Alltag

Der beugt sich über einen fragmentarisch erhaltenen und bisher unveröffentlichten Briefwechsel zwischen Mann und dessen Schulfreund Otto Grautoff, aus dem das Hadern beider mit ihrer Neigung klingt. Grautoff unterzog sich damals einer Konversionstherapie, deren Durchführung seit 2020 in Deutschland gesetzlich verboten ist. Der Berliner Sexualwissenschaftler Albert Moll hatte versucht, Grauthoffs Homosexualität zu "heilen". "Ich selbst habe in dieser verfänglichen Richtung viel, sehr viel erlebt – (ich vermeide das renommistische Wort gelitten, denn ich erziehe mich dazu, den Unterschied zwischen glücklichen und unglücklichen Erlebnissen zu verlernen …) – und verstehe Dich daher desto besser", schreibt Mann 21-jährig im Juli 1896 seinem Vertrauten.

Liebesgedichte an männliche Schulkameraden

Das erste Kapitel von Lahmes Buch ist besonders stark geraten, weil es ihm hier höchst eindringlich gelingt, die Nöte des Pubertierenden im persönlichen Coming-out darzustellen. Er nimmt die Leser mit in die Lübecker Schulklasse, in der ein jugendlicher Thomas Mann schwärmt, liebt, leidet und hadert und so hinreißend ungelenke Liebesgedichte an männliche Schulkameraden schreibt, dass der ältere Bruder Heinrich erwägt, einzugreifen. "… als an deiner Brust ich ruhte, als um den Freund den Arm ich schlang", heißt es etwa in einem Brief an den hübschen, blonden Armin Martens, der Mann jedoch nur auslacht.

Eine zweite Schulhofliebe zu Williram Timpe sollte geheim bleiben. Die einzige Annäherung war die Bitte um einen Bleistift im Zeichenunterricht, den Mann hernach als Andenken aufhebt. Die Wirkmacht dieser unerfüllten Liebe aber muss immens gewesen sein, für den "Zauberberg" wird Mann darauf als zentrales Motiv zurückgreifen.

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