Im Juni feiert die ARD ihren 75. Geburtstag. Gemeinsam mit den Menschen in Deutschland erinnern wir uns an die großen emotionalen Momente der vergangenen 75 Jahre Rundfunk, an gemeinsame Lagerfeuererlebnisse und Straßenfeger. So ziemlich jeder und jede von uns kann sich noch genau erinnern, wo er oder sie in solch prägenden Momenten war, mit wem er sie verbracht hat: „9/11“, Deutschland wird Fußballweltmeister in Brasilien im Finale gegen Argentinien – oder der Abend als Lena, nach jahrzehntelanger Flaute für Deutschland, den Eurovision Song Contest gewonnen hat.

Als ARD-Vorsitzender und Grundgesetz-Ultra werde ich nicht müde, das Gründungsversprechen der ARD zu wiederholen, nämlich, dass die ARD ein entscheidendes Element für die Entwicklung unserer demokratischen Gesellschaft war, ein föderaler Gegenentwurf zum gleichgeschalteten Propagandafunk der Nationalsozialisten, ein Stabilisierungsfaktor beim Aufbau der Bundesrepublik und danach auch in der Wiedervereinigung.

Und gleichzeitig bin auch ich alarmiert und frage mich: Wie schaffen wir es, dass wir als ARD und als Qualitätsmedien im Allgemeinen auch in den nächsten Jahrzehnten relevant bleiben? Wir befinden uns in einer Zeit, in der demokratische Wertesysteme von Möchtegern-Oligarchen ausgehöhlt werden, in der ein Marc Zuckerberg in Kalifornien fact checking als institutionalisierte Zensur bezeichnet, in der künstliche Intelligenz die Art, wie wir alle Medien nutzen, so krass verändern wird, wie wir uns das kaum vorstellen können. Und wo spielen wir als Qualitätsmedien im Medienmarkt der Zukunft eine Rolle?

Klar ist: Um Aufmerksamkeit musste schon immer gekämpft werden. Aufmerksamkeit war schon immer unsere wichtigste Währung. Durch den exponentiellen Anstieg an Informationen durch die Digitalisierung ist der Kampf aber noch härter geworden. Die Demokratisierung (oder sollte ich sagen: Anarchisierung?) der Publikationsmittel hat die Machtverhältnisse verschoben. Aus der Massenkultur des 20. Jahrhunderts wurde im 21. Jahrhundert eine Kultur der massenhaften Nischen. Diese Segmentierung verändert unsere Vorstellung von Öffentlichkeit — und die Ansprüche des Publikums an Medien. Relevant ist, was gefunden wird, wertvoll, was Aufmerksamkeit spart.

Die einstige Deutungshoheit der klassischen Medien ist einem vielstimmigen Kampf um die Frage gewichen, was wahr ist und was falsch. Dabei geht es vor allem um die Frage von Vertrauen. Medien sind deshalb nicht mehr länger unbeteiligte Beobachtende, sie müssen sich immer wieder neu erklären. Dazu gehört für mich vor allen, zu erklären, wie wir arbeiten – warum wählen wir etwas aus und warum nicht.

Wir stehen mitten im Sturm der nächsten Medienrevolution. Künstliche Intelligenz stellt uns vor komplett neue Herausforderungen. Das meint nicht nur, welches KI-Tool wir als Medienunternehmen wo und wie ethisch, journalistisch oder ökonomisch sinnvoll einsetzen. Sondern es meint, dass wir uns bewusst machen müssen, wie „Agenten“ oder „Antwortmaschinen“ die Gatekeeperrolle übernehmen. Wenn ich beobachte, wie sich junge Menschen mit Fragen und Prompten ihre Welt erschließen, dann frage ich mich schon, wie wir unsere Rolle hier finden.

Wir werden unsere Strategie anpassen müssen, wir müssen die ARD als „Datenhaus“ denken. Das Denken in fertigen Produkten muss um ein Denken hin zu optimal strukturierten Daten und Bereitstellung von Zugängen und Werkzeugen für personalisierte Information und Unterhaltung erweitert werden.

Den Fundus an Geschichten, an Erfahrungen, an gemeinsam Erlebtem, den wir als ARD schon haben und sekündlich erweitern, für alle gut zugänglich zu machen, das muss unser Ziel sein. Gleichzeitig muss es uns gelingen, dass die Antwort-Agenten uns nicht nur finden, sondern auch als verlässliche Quelle nennen, damit jede und jeder die Antworten für sich einordnen kann. Denn unsere Aufgabe ist es nicht, Meinungen zu beeinflussen, unsere Aufgabe ist es, Meinungsbildung möglich zu machen.

Um sich eine Meinung bilden zu können, braucht es aber nicht nur Informationen, sondern auch Austausch. Im echten Leben wie im Digitalen. Miteinander reden ist wichtig. Wir dürfen als Gesellschaft nicht das Miteinander-Reden runterfahren oder sogar einschlafen lassen. Deshalb gehört es für mich auch zu den Aufgaben der ARD, Räume zu schaffen, an denen die Menschen miteinander in Kontakt kommen. Im Digitalen und im Analogen. Denn von diesen Orten gibt es immer weniger: Gemischte Wohnviertel verändern sich, öffentliche Schwimmbäder schließen, und gleichzeitig verlernen wir die Fähigkeit, „ordentlich“ zu streiten. Sich die Meinung zu sagen, zu diskutieren, andere Ansichten aushalten, sacken lassen, erwägen, dass der andere auch einen Punkt haben könnte. Wir müssen Debattenräume schaffen, die Menschen zusammenbringen und ihnen gemeinsamen Erfahrungen ermöglichen – und nicht ihre Einstellungen gegeneinander ausspielen.

Florian Hager ist nominiert für THE POWER LIST – GERMANY’S TOP 50. Im Rahmen der POWER LIST kürt WELT ausgewählte Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik, Kultur und Sport: Menschen mit besonderem Profil, Einfluss oder Potenzial – gemeinsam mit POLITICO und BUSINESS INSIDER. Wer prägt Deutschland 2025? Die finale Liste erscheint am 5. Juni und wird präsentiert von BCG, Mercedes, Visa und Vodafone. Alle Einträge zu unseren Nominees finden Sie schon vorab hier.

Die ARD ist dabei eine der relevanten Säulen unserer Demokratie, in Deutschland haben wir eine vielfältige und funktionierende Medienlandschaft. Sie hat dazu beigetragen, dass sich unsere Demokratie in den vergangenen Jahrzehnten zu dem entwickeln konnte, was bis heute die Basis unserer Gesellschaft ist. Aber diese Medienlandschaft droht zur Rarität zu werden. Eine bedrohte Art. Wir brauchen den Schulterschluss und die enge Zusammenarbeit von öffentlich-rechtlichen wie privatfinanzierten Medienunternehmen. Ich halte das duale System mit diesen beiden Säulen für unverzichtbar.

Deshalb möchte ich die Zusammenarbeit in diesem System neu beleben: Wir brauchen eine Allianz von Verlagen, Öffentlich-Rechtlichen und Privatmedien, vor dem Hintergrund dessen, was sich außerhalb von Europa abspielt. Und Europa schaut bei diesem Thema auf Deutschland, wir müssen das gemeinsam hinbekommen. Ich bin überzeugt, dass wir bei vielen Themen kooperieren und gleichzeitig unsere Unterschiede bewahren können. Dass wir am Ende Konkurrenten um Aufmerksamkeit sind, das wird sich nicht auflösen lassen. Aber angesichts der vielen gemeinsamen Themen und Herausforderungen werden wir das nur gemeinsam hinbekommen.

Florian Hager ist Intendant des Hessischen Rundfunks und seit dem 1. Januar 2025 für zwei Jahre Vorsitzender der ARD.

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