In Nürtingen ist gelungen, wovor viele Kommunen noch zurückschrecken: Fläche umzuwidmen, die dem Auto vorbehalten war. Dagegen gab es massive Widerstände, doch inzwischen ist der sogenannte Stadtbalkon am Neckar ein Erfolg.
"Bei sonnigem Wetter hat man auf dem 'Stadtbalkon' ein Gefühl, das man sonst nur aus Südfrankreich oder Italien kennt", schwärmt Johannes Fridrich, parteiloser Oberbürgermeister im schwäbischen Nürtingen. "Stadtbalkon" - so nennen die Nürtinger den Bereich am Ortseingang direkt am Neckar. Bis vor wenigen Jahren war an dieser Stelle noch eine Durchgangsstraße: Bis zu 12.000 Fahrzeuge fuhren hier pro Tag entlang. "Ein Lkw folgte dem anderen", erzählt Fridrich. "Da war gar keine Aufenthaltsqualität."
Heute fahren auf dem "Stadtbalkon" keine Autos mehr: Auf Initiative von Fridrich hat die Stadt den Bereich für den motorisierten Verkehr gesperrt. Stattdessen haben sich mittlerweile mehrere Gastronomiebetriebe dort angesiedelt: Restaurants, Bars, Cafés, alle mit großem Außenbereich.

Vor der Umgestaltung war der Bereich des "Stadtbalkons" noch eine vielbefahrene Durchgangsstraße
Zuerst nur ein Experiment für einen Sommer
Für das Südfrankreich-Feeling braucht man an diesem verregneten September-Tag etwas Fantasie. Die meiste Zeit im Jahr ist das Wetter in Deutschland eben zu ungemütlich, um sich draußen aufzuhalten. Auch das war lange Zeit ein wichtiges Argument gegen den "Stadtbalkon" - und für die Durchgangsstraße.
Denn es dauerte, bis der Bereich wirklich dauerhaft für Autos gesperrt wurde. Begonnen hat das Projekt als Experiment für einen Sommer, 2021 war das. Andernorts bleibt es oft dabei: Ein verkehrsberuhigter Bereich wird vorübergehend eingerichtet und dann doch wieder aufgehoben. Auf dem Nürtinger "Stadtbalkon" sind Autos seit Ende 2022 dauerhaft ausgesperrt.
Bürgerbeteiligung war laut Oberbürgermeister Schlüssel zum Erfolg
Doch auch hier waren die Widerstände groß. So eine dauerhafte Straßensperrung sei natürlich ein schwieriges Unterfangen, "hier im Autoland Baden-Württemberg", erzählt Oberbürgermeister Fridrich, der an der Stelle schnell betont, dass auch er selbst gern Auto fährt. Es sei wichtig gewesen, die Einwohnerinnen und Einwohner in den Entscheidungsprozess einzubeziehen.
Vor dem Start 2021 gab es Informationsveranstaltungen, nach dem ersten Testsommer konnte man Kritik einreichen, per QR-Code übers Handy. Ein Forum aus zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern machte weitere Vorschläge: Daraufhin ließ die Stadt beispielsweise Platanen auf dem "Stadtbalkon pflanzen, finanziert durch Spenden.
Ein weiteres heiß diskutiertes Thema: Wie gelingt die friedliche Koexistenz von Fußgängern auf der einen Seite und Radfahrern sowie E-Roller-Fahrern auf der anderen? Schließlich wurde für letztere in der Mitte ein Streifen eingerichtet, auf dem sie in Schrittgeschwindigkeit fahren dürfen.
In der Regel funktioniere das, so Fridrich. Radfahrer und andere zum Absteigen zu zwingen, sei für die Stadt keine Option gewesen: "Wir wollen nachhaltige Mobilität ja ermöglichen." Deshalb wurde für die Radfahrer sogar extra zusätzliche Infrastruktur geschaffen: Fahrradständer, eine Ladesäule für E-Bikes und eine kleine Reparaturstation mit Werkzeug zum Flicken.
Weniger Lkw-Verkehr in der Stadt
Trotzdem blieb das Projekt lange Zeit umstritten, bei manchen ist sie es das bis heute. Letztlich sei für die Autofahrer eine Abkürzung weggefallen, so Fridrich. Ihm sei wichtig gewesen, solche Nachteile, die es natürlich gebe, von Anfang an transparent zu diskutieren: "Das ist wie beim Skat: Die schlechten Karten gleich ausspielen", sagt Fridrich. Er ist sicher, dass die Vorteile überwiegen. Das gelte nicht nur für die Aufenthaltsqualität am "Stadtbalkon" selbst, sondern auch für den Verkehr in Nürtingen: "Die Lkw fahren jetzt außen rum, die sind nicht mehr in der Stadt."
Auch dafür sei es wichtig gewesen, die Sperrung dauerhaft einzurichten und nicht nur im Sommer. Erst das habe den Ort wirklich verändert, erzählt Fridrich. Früher hätten die Eigentümer dort ihre Häuser teilweise verfallen lassen: zu unattraktiv die Lage an der Durchgangsstraße, Neckarblick hin oder her. "Dann haben wir den Verkehr rausgenommen, und plötzlich haben die investiert", so Fridrich.
Keine Steuergelder für den "Stadtbalkon"
Die Idee vom "Stadtbalkon" habe eine Kettenreaktion ausgelöst. Jetzt sei "ein Haus schöner saniert als das andere", sagt Fridrich, der betont, dass dafür keine Steuergelder ausgegeben wurden. "Und je attraktiver der "Stadtbalkon" wurde, desto mehr Gastronomie siedelte sich dort an.
"Für uns ist es hier perfekt", sagt Michael Raisch, Inhaber von einem der Restaurants: "Eine bessere Lage wüsste ich nicht." Und Oberbürgermeister Fridrich ist so stolz, dass er aus dem Schwärmen über das Projekt kaum noch herauskommt. Früher seien die Nürtingerinnen und Nürtinger noch nach Esslingen oder Stuttgart gefahren, um eine gute Zeit zu haben - jetzt kämen viele Menschen aus den umliegenden Städten extra zum "Stadtbalkon". Der sei bald bekannter als die berühmtesten Söhne der Stadt: "Früher kannte man Nürtingen wegen Hölderlin oder wegen Harald Schmidt", sagt Fridrich. "Jetzt ist es der Stadtbalkon."
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke