Ein Jahr nach dem Messeranschlag fühlt sich jeder dritte Mensch in Solingen unsicher. Das zeigt der SolingenTrend, eine repräsentative Studie im Auftrag des WDR. Trotzdem bemühen sich viele Solinger um Zusammenhalt.
Wenn Philipp Müller vom Anschlag am Fronhof erzählt, kämpft er auch ein Jahr danach noch mit den Bildern im Kopf. Auch die Frage nach dem Warum lässt ihn nicht los. "Es war so eine tolle und ausgelassene Stimmung bis in den Abend hinein. Alles, was wir uns vorgenommen hatten, ist bis um 21.37 Uhr auf dem besten Weg gewesen", erzählt der Veranstalter des Stadtfestivals. "Und dann kam Issa Al H. und hat zugestochen."
Müller eilte auf den zentralen Platz in Solingen: Mehrere schwer verletzte Personen kämpften hier um ihr Leben. Im gleichen Moment traf ihn die Erkenntnis, dass der Attentäter noch frei herumlief. "Ich habe noch gesehen, wie den Menschen Blut aus dem Hals lief. Und jemand versucht hatte, das da zu stillen. Das macht natürlich was mit den Leuten in dieser Stadt. Zwei der drei Toten haben mitten in der Solinger Stadtgesellschaft gelebt."
Große Betroffenheit in der Stadt
Am 23. August 2024 war Solingen Tatort eines mutmaßlich islamistisch motivierten Anschlags, bei dem ein aus Syrien stammender Angreifer drei Menschen tötete. Issa Al H. wurde erst knapp einen Tag später gefasst.
In der ganzen Stadt spürt Philipp Müller nach wie vor eine tiefe Trauer. "Es gehört für mich auch zur Therapie, den Platz in der Stadt zu besuchen, wo es passiert ist. Dadurch hat der für mich wieder an Normalität gewonnen, ohne dass das Attentat aus dem Kopf ist", sagt Müller.
Das müsse verarbeitet werden. Auch von anderen Besuchern des Festivals. "Von vielen weiß ich, dass die sich keine Hilfe geholt haben. Die sollten das dringend tun. Denn was sie an Gebrausel im Kopf haben wie ich, das ist keine Krankheit. Das hat uns der Attentäter in den Kopf gepflanzt", sagt Müller. Die Bilder und das Gefühl der Unsicherheit müsse man wieder da rauskriegen.

Philipp Müller spürt in Solingen nach wie vor eine tiefe Trauer.
Verunsicherung bis heute spürbar
Im Auftrag des WDR wurde der SolingenTrend erstellt. Eine repräsentative Umfrage, die speziell auf die Stadt Solingen zugeschnitten ist. Darin wurden die Solinger befragt, wie sich ihr Leben nach dem Anschlag geändert hat. Die Mehrheit der Solinger (60 Prozent) wurde durch die Tat vor einem Jahr verunsichert.
Für knapp drei von zehn (28 Prozent) gilt dies rückblickend für die Zeit nach dem Angriff, also in den Wochen und Monaten danach. Für etwa jeden dritten Solinger (32 Prozent) wirkt die Verunsicherung bis heute nach, darunter sind erkennbar mehr Frauen als Männer.
Für Philipp Müller ist klar, dass er weitermachen will. "Wenn wir uns selbst als Veranstalter in Frage stellen, hat der Attentäter genau das erreicht, was er will", sagt Müller. Die Solingerinnen und Solinger sollen sich in ihrer Freiheit nicht einschränken müssen, damit der Terror nicht gewinnt, sagt er.
"Was mich sehr geärgert hat, ist, dass der Attentäter gar nicht in Solingen hätte sein dürfen", sagt Müller. Es gehöre auch zur Wahrheit dazu, dass seine Abschiebung nicht geklappt hat. "Zehn Jahre nach dem Satz 'Wir schaffen das' kriegen wir solche Sachen nicht auf die Kette. Das hat viele in der Stadtgesellschaft fassungslos zurückgelassen."
Kritischerer Blick auf Migration
Einzelne Anschläge wie der vom 23. August 2024 beeinträchtigen das Vertrauen in Staat, Institutionen und Behörden, zeigt der SolingenTrend. Sie beeinflussen in Teilen der Bevölkerung aber auch die allgemeine Sicht auf die Zuwanderung.
Drei Viertel der Solinger (73 Prozent) geben zwar an, dass die Tat ihre Haltung zur Flüchtlingszuwanderung nicht verändert hat, weil sie bereits zuvor kritisch positioniert waren (31 Prozent). Immerhin jeder Vierte (23 Prozent) konstatiert für sich jedoch eine seither kritischere Perspektive auf die Aufnahme von Flüchtlingen.
"Ich verstehe schon, wenn man sich kritischer darüber äußert oder auch nicht mehr mit einem Wohlsein irgendwo entlang läuft", sagt Lea Varoquier. Sie wollte nur tanzen - doch dann traf sie der Attentäter mit voller Wucht am Hals. Sie überlebte schwer verletzt.
Ihr Weg zurück ins Leben ist mühsam, erzählt sie. Die Narben an ihrem Hals sind deutlich sichtbar. "Am Ende ist das so, dass wir persönlich nicht gemeint sind. Der ist wahllos auf Menschen losgegangen und hatte natürlich erstmal eine Gruppierung vor Augen."

Lea Varoquier überlebte den Anschlag in Solingen vor einem Jahr schwer verletzt.
Es helfe bei der Verarbeitung, dass es nichts mit einem persönlich zu tun hat, sagt sie. Regelmäßig kommt sie an den Fronhof mitten in der Solinger Innenstadt und zündet eine Kerze an.
An der Stadtkirche entsteht nach dem Anschlag eine Gedenkstätte, die mit jeder Blume, jeder Kerze und jedem Teddy weiter wächst. Der Zusammenhalt berührt sie sehr.
"Dinge bewusster genießen"
"Ich würde mir wünschen, dass wir alle das nicht nutzen, um Negatives hochkommen zu lassen", sagt Lea Varoquier. "Wir brauchen mehr Bewusstsein dafür, dass es nicht selbstverständlich ist, dass wir feiern oder gemütlich durch die Stadt laufen können. Dass wir Dinge bewusster genießen und immer darauf achten, dass es uns nicht spaltet."
Bis heute habe sich die Stadt nicht vollständig vom Erlebten erholt. Ihr Wunsch: Solingen solle sich die Freude nicht nehmen lassen.
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