Mehr und länger arbeiten? Mit ihrer Forderung nach einer höheren Lebensarbeitszeit stößt Wirtschaftsministerin Reiche auf Widerspruch. Der kommt vom Koalitionspartner, aber auch aus der eigenen Partei.
Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche hat die Deutschen aufgefordert, mehr und länger zu arbeiten - und damit eine Kontroverse ausgelöst. Die Vize-Chefin der SPD-Bundestagsfraktion, Dagmar Schmidt, nannte den Vorstoß "fern der Lebensrealität der meisten Menschen". Schon heute lohne es sich, über das Renteneintrittsalter hinaus zu arbeiten - für alle, die das wollten, sagte sie den Zeitungen der Funke Mediengruppe. "Die, die es nicht können, gilt es zu schützen." Für sie sei jede Verlängerung der Lebensarbeitszeit eine Rentenkürzung. "Das wird es mit der SPD nicht geben."
Das Argument, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer länger arbeiten müssten, weil sie länger leben würden, könne so pauschal nicht angewendet werden, sagte Schmidt weiter. Es seien vor allem Menschen mit höheren Einkommen, die eine höhere Lebenserwartung haben. "Es träfe hier wieder einmal die Falschen."
Reiche hatte der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom Samstag gesagt, die Lebensarbeitszeit müsse steigen. Der demografische Wandel und die weiter steigende Lebenserwartung machten das "unumgänglich". Es könne "jedenfalls auf Dauer nicht gut gehen, dass wir nur zwei Drittel unseres Erwachsenenlebens arbeiten und ein Drittel in Rente verbringen", so die CDU-Politikerin.
Kritik von einem weiteren SPD-Politiker
Auch Sebastian Roloff, wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, hält Reiches Ansatz für falsch. "Die Argumentation von Frau Reiche ist stark verkürzt und wird der Lage nicht gerecht", sagte Roloff dem Magazin "Spiegel". Es sei zwar korrekt, dass Deutschland mehr Arbeitskraft benötige, "das kann man aber nicht pauschal über eine Erhöhung des Renteneintrittsalters erzwingen".
Roloff setzt laut "Spiegel" hingegen auf den Zuzug von Fachkräften und will ältere Erwerbstätige lieber durch Anreize statt Zwang für längeres Arbeiten begeistern. Möglich seien Steuererleichterungen und ein flexiblerer Eintritt ins Rentenalter - es sind Pläne der alten Ampelregierung vom vergangenen Herbst.
Linke: "Billiger Klassenkampf von oben"
Der Fraktionsvorsitzende der Linken, Sören Pellmann, spricht im "Spiegel" von einem "billigen Klassenkampf von oben". Die Äußerungen dürften viele Menschen als Hohn empfinden, sagte Pellmann dem "Spiegel". "Viele Beschäftigte leisten Überstunden ohne Ende, werden krank durch zu viel Arbeit und für viel zu viele wartet jetzt schon nach einem Leben voller Arbeit bittere Altersarmut."
Statt Menschen länger arbeiten zu lassen, müsste das Rentensystem so finanziert werden, dass alle Erwerbstätigen einzahlen. Auch müsste eine bessere Kinderbetreuung Arbeitende entlasten und bestehende Arbeit besser umverteilt werden.
Mittelstandsverband zeigt sich skeptisch
Der Bundesverband Mittelständische Wirtschaft reagierte zurückhaltend auf den Vorstoß. Wichtiger sei eine Steigerung der Produktivität, sagte Verbandsgeschäftsführer Christoph Ahlhaus ebenfalls den Zeitungen der Funke Mediengruppe. "Unternehmenssteuern und Sozialversicherungsbeiträge runter - und weg mit überflüssiger Bürokratie." Das helfe der deutschen Wirtschaft mehr als "ein lähmender Koalitionskrach um die verlängerte Lebensarbeitszeit".
Zwar habe Ministerin Reiche recht, "wenn sie sagt, dass wir im wirtschaftlichen Abstiegskampf wieder einen Gang hochschalten müssen", sagte Ahlhaus. Vor allem aber müsse die Wirtschaft "endlich wieder produktiver werden". Konkret heiße das: "Mehr schaffen, wenn wir schaffen." Dazu müsse die Bundesregierung die Unternehmen wieder in die Lage versetzen, gezielt in die Produktivität investieren zu können.
Scharfe Kritik aus der eigenen Partei
Reiche stößt auch in Teilen ihrer eigenen Partei auf Widerstand - der CDU-Sozialflügel (CDA) kritisierte die Aussagen der Ministerin scharf. CDA-Bundesvize Christian Bäumler sagte, ihre Forderungen hätten keine Grundlage im Koalitionsvertrag. "Wer als Wirtschaftsministerin nicht realisiert, dass Deutschland eine hohe Teilzeitquote und damit eine niedrige durchschnittliche Jahresarbeitszeit hat, ist eine Fehlbesetzung", sagte er.
Der Sozialverband Deutschland (SoVD) übte ebenfalls Kritik. Durch ein mögliches Credo, dass die Menschen länger arbeiten könnten, dürfe es nicht "zu einer Anhebung des Renteneintrittsalters durch die Hintertür kommen", sagte die SoVD-Vorstandsvorsitzende Michaela Engelmeier.
Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) warnte vor einer Erhöhung des Rentenalters. "Für gute Renten muss jetzt auf der Einnahmeseite der Rentenversicherung mehr reinkommen", sagte DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel. Gesamtgesellschaftliche Aufgaben wie die Mütterrente müssten aus Steuergeldern und nicht aus der Rentenkasse bezahlt werden.
Arbeitgeberpräsident stellt sich hinter Vorstoß
Positiv fiel dagegen die Reaktion des Arbeitgeberpräsidenten Rainer Dulger aus. "Wirtschaftsministerin Reiche spricht Klartext - und das ist gut so. Wer jetzt mit Empörung reagiert, verweigert sich der Realität", sagte Dulger der Nachrichtenagentur dpa. Die CDU-Politikerin fordere eine umfassende Reformagenda, die auch die sozialen Sicherungssysteme einschließt.
"Das zeigt: Das Rendezvous mit der Realität hat in der Bundesregierung begonnen. 50 Prozent Sozialversicherungsbeitrag sind keine Verheißung, sondern ein Warnsignal", sagte Dulger. Wer angesichts der demographischen Entwicklung weiter den Kopf in den Sand stecke, versage vor der Verantwortung gegenüber kommenden Generationen. "Deutschland muss wieder mehr arbeiten, damit unser Wohlstand auch morgen noch Bestand hat", mahnte Dulger.
Ähnliche Aussagen von Merz und Linnemann
Ähnlich wie Reiche hatten sich in den vergangenen Monaten bereits Bundeskanzler Friedrich Merz und CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann geäußert. "Wir müssen in diesem Land wieder mehr und vor allem effizienter arbeiten", sagte Merz etwa beim CDU-Wirtschaftstag im Mai. "Mit Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand dieses Landes nicht erhalten können."
Die Wirtschaftswissenschaftlerinnen Veronika Grimm und Monika Schnitzer reagierten schon damals skeptisch auf den Vorstoß. Grimm sagte, besonders viel Potenzial sehen sie in einer stärkeren Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt, etwa durch eine Verbesserung der Kinderbetreuung. Schnitzer nannte als konkrete Maßnahme eine Abschaffung des Ehegattensplittings.
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