Immer mehr Kinder müssen die erste Klasse wiederholen. Eine ARD-Umfrage unter 7.000 Grundschullehrkräften zeigt: Erstklässler haben heute mehr Defizite als vor zehn Jahren.
Eigentlich stehen bei der 1e der Gräfenauschule in Ludwigshafen das ABC und das Einspluseins auf dem Lehrplan. Doch Klassenlehrerin Eva-Maria Wenz muss bei vielen Kindern viel früher ansetzen - bei ganz grundlegenden Fähigkeiten.
Ihre Schülerin Amalia zum Beispiel tut sich schwer, den Stift richtig zu halten. Ihre Finger verkrampfen sich beim Schreiben, selbst eine Schreibhilfe bringt kaum Erleichterung. Am Nachbartisch versucht Sabri, seinen Namen zu schreiben - offenbar zum ersten Mal. Buchstabe für Buchstabe spricht Eva-Maria Wenz langsam vor und macht dazu eine untermalende Geste.
Viele ihrer Schülerinnen und Schüler kommen aus einem bildungsfernen Elternhaus und sprechen nur schlecht Deutsch. Bundesweit haben ein Drittel der Kinder Migrationsgeschichte, hier an der Gräfenauschule sind es 98 Prozent.
"Man merkt, wenn Kinder nicht im Kindergarten waren", sagt Eva-Maria Wenz. Viele Kinder würden einfache Abläufe nicht mehr beherrschen, wie Dinge aus dem Schulranzen holen, mit der Schere umgehen oder sich über längere Zeit konzentrieren können. "Das bremst alles aus", so die Lehrerin.
Grundschullehrkräfte schlagen Alarm
Der Fall der Gräfenauschule sorgte wiederholt durch den Hilferuf ihrer Rektorin Barbara Mächtle bundesweit für Schlagzeilen. 2023 mussten aufgrund der Defizite 39 Kinder, ein Drittel des Jahrgangs, die erste Klasse wiederholen. 2024 waren es 37 Kinder.
Doch auch viele andere Grundschullehrkräfte schlagen Alarm. In einer exklusiven ARD-Befragung unter knapp 7.000 Grundschullehrkräften geben 87 Prozent an, dass Kinder in der ersten Klasse heute deutlich mehr Defizite aufweisen als noch vor zehn Jahren - unabhängig davon, ob sie an einer Brennpunktschule wie der Gräfenauschule arbeiten oder nicht.
Besonders häufig nennen sie Verhaltensauffälligkeiten, Konzentrationsschwierigkeiten, Probleme bei der Feinmotorik und Sprachdefizite. Als Hauptgrund nennen die Lehrkräfte ein bildungsfernes Elternhaus.
Sie haben der Umfrage zufolge kaum die Möglichkeit, diese Defizite auszugleichen: Mehr als die Hälfte (52 Prozent) gibt an, keine zusätzlichen Stunden zum Beispiel für Sprachförderung zur Verfügung zu haben. Weitere 28 Prozent haben lediglich eine Stunde pro Woche. Die Folge: Viele Schüler können dem Unterricht nicht ausreichend folgen.
"Schule darf nicht zum Reparaturbetrieb werden"
Was das im Schulalltag bedeutet, zeigt sich auch in der 1e der Gräfenauschule. Im Unterricht verteilt Eva-Maria Wenz nach nur wenigen Monaten unterschiedlich schwere Aufgaben. Die Schere gehe bei den Kindern schon nach kurzer Zeit weit auseinander, sagt sie. Manche könnten schon gut lesen und schreiben, andere würden kaum verstehen, was im Unterricht passiert.
Bildungsexpertinnen und -experten warnen: Grundschulen können diese Lücken kaum noch schließen. Havva Engin, Erziehungswissenschaftlerin an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg hebt hervor: "Schule darf nicht zum Reparaturbetrieb werden." Man müsse viel früher ansetzen - vor der Schule.
Hamburger Modell als Vorbild?
Das versucht Hamburg seit 20 Jahren mit einem besonderen Modell: Um Förderbedarf deutlich vor der Einschulung zu erkennen und frühzeitig gegenzusteuern, müssen sich alle viereinhalbjährigen Kinder verpflichtend an einer Grundschule vorstellen. In einem standardisierten Verfahren prüfen Lehrkräfte bei ihnen sprachliche, motorische, soziale und kognitive Fähigkeiten.
Stellen die Lehrkräfte einen Bedarf fest, muss das Kind verpflichtend in eine Vorschule. Dafür änderte der Hamburger Senat sein Schulgesetz, um die Schulpflicht vorzuziehen. Offenbar mit Erfolg: In Hamburg wiederholen deutlich weniger Kinder die erste Klasse als zum Beispiel in Berlin oder Bayern.
Lehrkräfte fordern eine verpflichtende Vorschule
Bei den knapp 7.000 Grundschullehrkräften aus der ARD-Befragung stößt das Modell auf breite Zustimmung. Dort sprechen sich 92 Prozent der Befragten für eine verpflichtende Vorschule für Kinder mit Förderbedarf aus.
Doch eine Anfrage bei den Kultusministerien der Länder zeigt auch: Die meisten Bundesländer planen in den nächsten zwei Jahren keine Vorschulen. Neben Hamburg gibt es diese bislang nur in Hessen und ab dem nächsten Schuljahr auch in Baden-Württemberg. Allerdings übernehmen immer mehr Länder eine verpflichtende Testung von Viereinhalbjährigen oder diskutieren diese.
Einen frühzeitigen Test plant ab dem Schuljahr 2026/2027 auch Rheinland-Pfalz, das Bundesland der Gräfenauschule. Eine Vorschule lehnt der zuständige Ministerpräsident Alexander Schweitzer hingegen ab. Ein solcher Kurs lasse sich in einem Stadtstaat wie Hamburg leichter umsetzen. Für ein Flächenland mit heterogenen Strukturen brauche es Lösungen, "die in die Kita passen", so Schweitzer gegenüber der ARD.
An der Gräfenauschule würde man eine Vorschule begrüßen. Denn manchmal brauche es fast ein Jahr, bis die Kinder ausreichend schulreif seien, erklärt Klassenlehrerin Eva-Maria Wenz. Wenn bald das aktuelle Schuljahr endet, wird sie erneut Kindern sagen müssen, dass sie die erste Klasse wiederholen werden. An der ganzen Schule sind es wieder 35 Erstklässler.
Die ARD-Dokumentation "Schulverlierer - Abgehängt in der Grundschule?" sehen Sie heute um 22.50 Uhr im Ersten und in der ARD-Mediathek.
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